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Interview:
»Behinderung ist eine Spielvariante der Natur, die der Menschheit hilft, sich weiterzuentwickeln«

GERMAIN WEBER IM GESPRÄCH MIT FRANZ HOFFMANN & GERHARD WAGNER


Mit dem Dekan der Fakultät für Psychologie der Universität Wien und Präsidenten der Lebenshilfe Österreich, Univ. Prof. Dr. Germain Weber haben Franz Hoffmann und Gerhard Wagner sich zum Interview getroffen:

Franz Hoffmann und Germain Weber

Bild: Franz Hoffmann und Dekan Germain Weber



DIDAKTIK: In unserer ersten Frage möchten wir gerne wissen, wer Sie sind und warum Sie sich entschlossen haben, mit behinderten Menschen zu arbeiten.

Germain WEBER: Wer ich bin, das ist immer eine einfache und auch eine schwierige Frage, wo man beginnen soll. Mein Name ist Germain Weber. Ich bin hauptamtlich an der Universität an der Fakultät für Psychologie tätig. Dort forsche ich insbesondere an psychologischen Forschungsbeiträgen für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder intellektuellen Beeinträchtigungen, wie es auch noch in der Fachwelt genannt wird. An meinem Akzent kann man möglicherweise hören, dass ich nicht direkt aus dem Zentrum von Wien komme und auch nicht aus irgendeinem Eck von Österreich. Ich bin gebürtiger Luxemburger, den es aber schon 1975 nach Wien verschlagen hat. Ich durfte hier eine Ausbildung in Psychologie genießen. Nach dieser Ausbildung bin ich für ein Jahr in die Vereinigten Staaten von Amerika gegangen und habe dort an einer Universität geforscht, zunächst zum Thema »Menschen mit Sprachstörungen«. Damals habe ich mich zum ersten Mal mit einer bestimmten Beeinträchtigung, mit einer bestimmten Behinderung oder Entwicklungsschwierigkeit beschäftigt.

Ich habe dann nach relativ kurzer Zeit gemerkt, dass ich doch keine Berufskarriere in den USA anstrebe, weil ich dort nur wenig von der Lebensqualität Mitteleuropas vorgefunden habe. Ich habe mir dann gesagt: Mein Mittelpunkt wird Mitteleuropa sein – und Forschung mit dem Thema »Menschen mit Entwicklungsstörungen«, wie wir es damals genannt haben. So habe ich mich umgesehen, wo man einiges lernen und Forschung betreiben kann. Ich war damals an der »State University of New York« auf Long Island. Von dort habe ich einen Brief an Prof. Andreas Rett nach Wien geschickt, den ich nicht kannte, von dem ich aber wusste, dass er eine Klinik oder ein Zentrum hatte, wo er für Menschen mit schweren Entwicklungsstörungen und mit Lernbehinderungen – damals hat man das noch »geistig Behinderte« genannt – medizinisch, aber auch pädagogisch und psychologisch Betreuungsstrukturen aufgebaut hatte. Und er hatte Forschungsaufträge am Ludwig-Boltzmann-Institut. Ich habe ein Schreiben aufgesetzt, ich würde mich interessieren, auf diesem Gebiet Forschung zu betreiben – ohne dass ich ihn damals kannte und ohne dass er mir damals eine Position angeboten hatte. Ich schrieb ihm auch, dass ich kurz vor Weihnachten wieder in Wien sein und mich auf ein Gespräch freuen würde.

Er hat mich dann zu einem Gespräch eingeladen, das sehr direkt und klar war. Nach einer Stunde lag ein Angebot auf dem Tisch, eine Stelle am Boltzmann-Institut anzunehmen. Er würde gerne im Jahr darauf ein Projekt zum Thema »Alt werden bei Menschen mit Behinderungen« machen. Ich wollte eher mit Kindern forschen, aber er wollte etwas zum Thema Älterwerden von Menschen mit Behinderungen machen. Das war kurz mein Einstieg in diese Szene. Der Türöffner war sicher mein eigenes Interesse, dies nach einem Studium in Wien kennenzulernen, wo ich über das Thema Behinderung überhaupt nichts gehört hatte. Ich wollte ein Anwendungsgebiet der Psychologie finden und habe das durch bestimmte Interessen und Erfahrungen im Behindertenbereich gesucht. Das ist dann über den nächsten Türöffner, Andreas Rett, recht gut gelungen und diesem Forschungsfeld »Alter und Behinderung« bin ich unter anderem bis heute forschungsmäßig treu geblieben. Und ich betreibe das auch weiter an der Universität.

DIDAKTIK: Es wird ja auch immer aktueller, weil es nach 1945 fast überhaupt keine Menschen mit Behinderung gab. Aber jetzt kommen auch sie in die Jahre. Es sind auch bereits die ersten im pensionsfähigen Alter.

Germain WEBER: So ist es! Und das war genau das, was Andreas Rett vorausgesagt hat. Er hat es beobachtet – ursprünglich war er ja Kinderarzt. Er war aber eine sehr prominente Person auf der Gemeindeebene (durch seine politische Situation in Wien, die sehr stark war, zumal im sozialmedizinischen Bereich), aber auch auf der bundes-gesundheitspolitischen Ebene, er war einer der Initiatoren des Mutter-Kind-Passes, das geht auf ihn und auf einen Arzt aus Vorarlberg zurück.
Er sah also diese Kinder und wusste zwar aus der Literatur, dass die Lebenserwartung von Kindern mit schweren Behinderungen eine sehr niedrige war. Aber er hat in seiner Praxis gesehen, dass Menschen mit 25, mit 30 und mit 40 auch noch leben. Er hat auch damals, Anfang der 1980er-Jahre mit Einzelpersonen gearbeitet, die gegen 60 Jahre waren. Das waren damals noch wenige. Aber er hat damals erkannt: Das ist die Zukunft. Diese Personen werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine Lebenserwartung genießen können so wie Sie und ich. Also sie werden alle deutlich über 70 Jahre alt werden. Und es ist auch das, was eingetreten ist. Also es war durchaus visionär, das damals zu sagen.

In Österreich gab es damals, wie Sie richtig sagen, fehlende Generationen durch die NS-Genozide gegenüber dieser Gruppe. Deshalb ist in Österreich und Deutschland dieses Phänomen des Älterwerdens erst gut zwanzig oder dreißig Jahre später sozialpolitisch akut geworden. In Frankreich, Großbritannien oder in anderen Ländern Europas war diese Thematik schon länger bekannt.
Darauf war Österreich nicht vorbereitet - und er hat damals gesagt: Komm, wir machen eine Studie zum Thema, dass insbesondere Menschen mit Down-Syndrom alt werden. Das hat ihn dann sehr stark interessiert. Wir haben da weltweit sicherlich eine der ersten Querschnittstudien gemacht. Wir hatten rund 180 Personen, die teilgenommen haben, und haben erstmalig auf diese Thematik hingewiesen: nicht nur die medizinischen, die gesundheitlichen, sondern auch die sozialen Folgen: Was das bedeutet, wenn man alt wird, wenn man immer in einer Werkstätte gearbeitet hat und wenn man dann keinen Pensionsanspruch hat. Und wo man dann weiterlebt:
Die Situation, wo der Wohnort für einen alten Menschen mit Behinderung ist, der jahrelang in eine Werkstätte gegangen ist und möglicherweise noch sehr lange zuhause gelebt hat. Die Eltern fallen weg. Wo geht er hin? Oder ist er in einer Werkstatt? In einigen Gegenden ist oft der Wohnort an den Werkstättenbesuch gekoppelt gewesen. Und geht er einmal nicht in die Werkstätte: Dann wohin? Da waren viele Fragen, die offen waren, die wir aber heute zum größten Teil in den Bundesländern gelöst haben.

DIDAKTIK: Aber wie hat man das denn gelöst? Wenn die Leute nun im Pensionsalter sind und nicht mehr in die Werkstätte gehen - was machen sie sonst? Oder machen sie dann in der Werkstätte weniger?

Germain WEBER: Es gibt verschiedene Modelle. Aber grundsätzlich konnten die Verantwortlichen vor Ort in allen Bundesländern die Beamten oder auch die öffentliche Hand davon überzeugen, dass die Person mit Behinderung auch ein Recht hat, dort weiterzuleben, wo sie bisher gelebt hat, auch wenn sie nicht mehr jeden Tag die Werkstätte besuchen kann. Das hat dann eine Umstellung in den Unterstützungressourcen des Personals gebraucht: Denn wenn ich nur eine Gruppe habe, die jeden Tag von der Wohnung in die Werkstätte geht, dann brauche ich während des Tages keine Betreuung in der Zuteilung meiner Assistenzpersonen rund um die Menschen, die hier unterstützt werden sollen. Da sind Konzepte erarbeitet worden, die sehr verschieden sind. Wir haben hier Wohngruppen, die homogene Seniorenwohngruppen sind bis hin zu heterogenen Gruppen, wo Jung und Alt zusammen wohnen: so wie in einer Großfamilie, wo noch der Großvater oder die Urgroßmutter kommt, und wo auch die ganz jungen Leute wohnen.

Da finden wir ganz unterschiedliche Modelle. Diese hängen teilweise von den Konzepten ab, die die Einrichtungsträger in den verschiedenen Ländern vorschlagen, aber auch von den zuständigen Landespolitikern und Beamten, die ja auch Vorstellungen haben, wie etwas umgesetzt wird: Und da ist interessant zu beobachten, dass wir in einigen Ländern Initiativen haben, die direkt von der Behörde ausgehen, wenn sie die Vorstellung hat: Inklusion ist etwas sehr wichtiges. Und was bedeutet das dann für das Alter, was bedeutet das für die Werkstatt? Wenn ich inklusive Arbeitsmöglichkeiten schaffe, passt das noch zu diesem Modell? Da gibt es durchaus Beamte die sagen: Das passt nicht. Ihr müsst umdenken. Und wir fördern dann ganz besonders neue inklusive Arbeitssituationen für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Das ist zum Beispiel in Vorarlberg der Fall. Dort sind die Beamten der Landesregierung bezüglich der Vorschläge der UN-Konvention von sich aus aktiv geworden. In anderen Bundesländern geht das doch sehr stark von den Interessensverbänden aus, die Beamten darauf hinzuweisen. Hier sieht man sehr unterschiedliche Entwicklungen.

DIDAKTIK: Das haben wir auch gesehen, als wir vor einigen Monaten in Vorarlberg in Götzis ein »Leichter-Lesen«-Seminar gemacht haben. Da ist uns aufgefallen, dass Vorarlberg offensichtlich der Zeit etwas voraus ist, nämlich unserer Zeit hier im Osten...

Ich muss jetzt das Thema wechseln, denn wir haben noch ein paar andere Fragen. Zum Beispiel haben wir gefunden, dass sie über das Thema »Ethik und Behinderung« publiziert haben und wir hätten eine ganz grundsätzliche Frage - auch im Anschluss an das, was Sie schon gesagt haben: Wie sieht denn ein zeitgemäßes Handeln gegenüber Menschen mit Behinderung aus oder wie könnte das aussehen?

Germain WEBER: Ethik ist unser Feld, in dem wir uns mit unseren Werten, unserer eigenen Person gegenüber beschäftigen: was für uns im Leben wertvoll ist und was uns mit Wert erfüllt – aber auch gegenüber dem, wie wir wertorientiert mit anderen unseren Umgang pflegen, einrichten und in unserer Gesellschaft kultivieren: auf einer persönlichen und privaten Ebene und auch auf einer breiteren gesellschaftlichen sozialen Ebene.

Das hat etwas mit Werten zu tun. Und das hat etwas mit Respekt zu tun. Das hat etwas mit Nicht-Diskriminierung zu tun. Das hat etwas mit Teilhabe zu tun. Das sind für uns, sage ich einmal für mich, aber auch für den Dachverband, in dem ich die Ehre habe Präsident zu sein, nämlich der »Lebenshilfe Österreich«, sehr wichtige Themen. Das heißt: ethische Normen, ethische Standards im Alltagsleben zu setzen: sowohl auf der individuellen Ebene, aber auch auf einer weiteren gesellschaftlichen strukturellen Ebene für Menschen mit Behinderungen. Das fließt auch in ein Thema an der Universität ein: Wie forscht man zum Thema Behinderung ethisch korrekt?

Wir fragen dann: Sind das dann nur die Forscher, denen einfällt: »Ah, da habe ich jetzt eine gute Idee. Und das muss ich einmal ausprobieren! Und da brauche ich jetzt ein paar... (Ich sage das jetzt bewusst sehr respektlos und überspitzt) ein paar Behinderte«, sonst sage ich immer Menschen mit Behinderungen...

DIDAKTIK: Als Vorzeigemodell?

Germain WEBER: Als Vorzeigemodell! »Und dann probiere ich etwas mit denen aus, ob meine Hypothese stimmt.« Und ich mache mir überhaupt keine Gedanken, ob das diesen Menschen im Nachhinein etwas bringt, wenn ein günstiges Ergebnis herauskommt; ob es sie benachteiligt, wenn ein ungünstiges Ergebnis herauskommt. Ich kläre die Menschen überhaupt nicht über mein Vorhaben auf. Möglicherweise ist diese Untersuchung auch allein belastend ist für diese Menschen. Ich mache mir aber darüber nie Gedanken, keine Reflexionen über dieses Thema, sondern versuche das Projekt durchzuziehen.

Also auch in der Forschung ist Ethik ein ganz zentrales Thema. Das geht aber auch so weit, wie es an vielen Stellen unserer Gesellschaft diskutiert wird: Kann überhaupt Forschung zu bestimmten Themen wie Stammzellenforschung oder die biomedizinische Forschung auch die Würde des Menschen und des Menschen mit Behinderung wieder in Frage stellen? Sind das Dinge, die wir unterstützen können oder müssen wir hier kritische Stimmen aufbringen, die vor bestimmten ethischen Problemen im Kontext mit Menschen mit Behinderungen in Zusammenhang stehen?

Ethik, denke ich, ist auch etwas, das wir uns immer stärker bewusst werden müssen, dass es hier eben auch um eine gleichwertige und gleichberechtigte Situation im Leben von Menschen mit unterschiedlichen Merkmalen geht. Dass man also nicht auf der Grundlage irgendeines Merkmals, ob das die Religion, die Kultur, oder die Behinderung ist, irgend einem Menschen sagt: Nein, weil du dieses Merkmal hast, kannst du da nicht teilnehmen, oder darfst du da nicht wohnen oder darfst du da nicht in die Schule gehen. Das sind auch schlussendlich ethische Themen, weil das mit einem Wert zu tun hat.
Wir wissen aus der Forschung sehr gut, dass diese unterschiedlichen Merkmale nicht ein erklärender Grund sind, um Menschen auseinander zu dividieren. Wissenschaftlich ist das nicht haltbar. Da gibt es also dann andere Interessen: und auf diese Interessen und auf diese Fehlentwicklungen von fehlgelagerten Interessen wäre auch hinzuweisen. Das wäre für mich auch ein Teil ethischen Handelns: auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, die Menschenrechte für bestimmte Personengruppen massiv verletzen.

DIDAKTIK: Um das jetzt nochmals zusammenzufassen: Im Grunde genommen geht es hier wieder, wie sie bereits zuvor erwähnt haben, um Respekt: Sei es des Wissenschaftlers, der die Leute nicht als Objekte betrachtet, sondern als gleichberechtigt, und es geht auch um Menschenrechte und um Gleichstellung.

Germain WEBER: So ist es, ja. Das ist zusammengefasst, was in unserer UNO-Konvention, die seit 2008 in Österreich vom Parlament ratifiziert worden ist, steht: Also diese Prinzipien und die Umsetzung dieser Prinzipien sind uns sehr, sehr wichtig.

DIDAKTIK: Bei der UN-Konvention ist ja Selbstbestimmung ein wichtiges Ziel: Sind die Begriffe »Selbstbestimmung« und »Behinderung« überhaupt miteinander vereinbar?

Germain WEBER: Ja! Das ist auf jeden Fall vereinbar!
Es ist nur eine Frage des Wollens und des Zulassens. Wenn man mit ihnen redet, dann haben Menschen mit Behinderungen Wünsche – genauso Wünsche, wie ich und wie Sie sie haben: wie mein Leben aussehen soll, was ich im Leben erreichen will, wo ich mich hinbewegen will, mit wem ich etwas tun will. Ich begegne als Germain Weber auch in meinem Leben oft Situationen, in denen meine Wünsche nicht immer so umgesetzt werden können, daher muss ich auf andere Menschen Bedacht nehmen und muss respektvoll sein. Ich muss sie berücksichtigen, und dann mit meinen Wünschen abgleichen.

Und genau die gleichen Vorstellungen und Erwartungen an das Leben äußern Menschen mit Behinderungen. Es geht also darum, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Ihre Wünsche, ihre Ziele, ihre Träume zu formulieren. Durch die Lebenserfahrungen, die sie machen können, sehen auch Menschen mit Behinderungen, wo Wege sind, die möglich sind, wo es in bestimmten Bereichen Grenzen gibt und wo unterstützt werden muss. Eine Grenze kann etwa so formuliert werden: Da will ich jetzt aber nicht mehr weiter gehen. Das ist für mich eine Sackgasse! Ich möchte lieber den anderen Weg da gehen: der ist für mich viel sonniger! Viel bunter!
Diese Stimme zu respektieren, das ist Selbstbestimmung.

Selbstbestimmung ist nicht so zu verstehen: Ich schaue nur nach mir und mich interessiert nicht, wer da links und rechts oder vor und hinter mir steht. Eine richtig gelebte Selbstbestimmung ist eine Selbstwertbestimmung, die Respekt hat vor dem, der mir gegenüber steht.

Dazu gehört eben auch, Selbstbestimmung in der Beziehung zu einem anderen Menschen zu entwickeln, Respekt zu haben vor einem anderen Menschen - und den auch zu unterstützen, etwa in seinen Lebenswünschen und Träumen. Menschen mit Behinderungen sind fähig, selbstbestimmt zu leben. In einigen Bereichen brauchen sie Unterstützung: etwa bei Amtswegen, wo es komplexe Fragen gibt, wo auch die Menschen, denen man dort begegnet, möglicherweise noch wenig Erfahrung haben, wie sie mit Menschen mit Behinderungen sprechen können. Da braucht man dann oft einen Unterstützer, der aber mehr der Unterstützer für den nicht behinderten Menschen ist: So lernt dieser, sich in einfacher Sprache auszudrücken. Das ist ja oft die Funktion des Unterstützers: Wenn jemand, der nicht viel Erfahrung in der Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen hat, wie etwa ein Arzt, etwas sehr komplex erzählt, dann ist es der Unterstützer, der in einfache Sprache übersetzt, was dieser Experte eben erklärt hat.

Eigentlich lehrt er auch den Arzt, wie er das nächste Mal, wenn der Mensch mit Behinderung alleine kommt, nun doch in einer anderen Sprache mit ihm reden könnte.

DIDAKTIK: Ist das nicht eigentlich fast eine Umkehrung der Behinderung. Denn in diesem Falle wäre ja der Arzt behindert - und im Fall eines Gebärdendolmetschers sind ja auch wir behindert, denn die gehörlosen Menschen können ja die Gebärdensprache?

Germain WEBER: So ist es! Genauso war meine Formulierung auch gedacht, so dass man das auch umdenken kann: dass nicht immer der arme, »behinderte« Mensch einen Unterstützer braucht, sondern weil auch ich als Nichtbehinderter manche Kompetenzen nicht habe, etwa mit behinderten Menschen zu kommunizieren, denn dann muss ich unterstützt werden, diese Kompetenz überhaupt zu bekommen.
So kann man es eben auch sehen. Und so soll man es auch vermehrt sehen!

DIDAKTIK: Da sind wir gerade bei einem Punkt, den wir ohnehin fragen wollten: Wir reden bei Freak-Radio öfters vom medizinischen und vom sozialen Modell: Wenn man das, was Sie gerade gesagt haben, als dynamisches soziales Modell betrachtet, kann man ja feststellen, dass es verschiedene Arten von Behinderung gibt: Es sind nicht immer behinderte Menschen, die behindert sind. Auch Nichtbehinderte sind in vielen Abläufen behindert, das hat dann nichts mit einem körperlichen Defizit zu tun.

Wie stehen denn Sie zu dieser Debatte: Medizinisches Modell versus Soziales Modell?

Germain WEBER: Behinderung ist keine Krankheit! Auch wenn das Thema Behinderung oder Menschen mit Behinderungen in vielen Gegenden Europas von einem medizinischen Fachpersonal über viele Jahrzehnte betreut worden sind, hat sich dieses medizinische Modell dadurch ergeben. Das ist aber deshalb so, weil unsere Betreuungssysteme – wie auch in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland - und auch die Bildungseinrichtungen sehr häufig von Medizinern geleitet worden sind. Behinderung kann man als Phänomen sehen - denn es ist ein Phänomen wie irgendein anderes Phänomen in der menschlichen Entwicklungsvielfalt... Wie sagt man das so schön: das ist eine Spielvariante der Natur. Die Natur produziert viele verschiedene Spielvarianten menschlicher Existenz. Die Behinderung ist eine davon. Das ist auch sehr wichtig, dass wir die Spielvarianten der Natur haben, sonst könnte sich die Menschheit nie so weiter entwickeln. Und Behinderung ist eines der Ergebnisse aus diesem Spiel zwischen sehr vielen Faktoren, die eben dann auch zu einer Entwicklungsbeeinträchtigung beitragen können, die vielleicht einen biologischen Hintergrund hat.

Aber wenn die Welt oder die Gesellschaft darauf so reagiert, diese im Sinne dessen, was wir heute versuchen, zu unterstützen, dann hätten wir die medizinische Behinderung überwunden: nämlich da, wo es Unterstützungsbedarf gibt, diesen mit Unterstützung auszugleichen, um die Behinderung zu überwinden. Solange ich die nicht anbiete, laufe ich Gefahr, dass ich eine neue Form der Behinderung, nämlich die soziale Behinderung aufbaue.

Ich brauche diese Unterstützung aus der Gesellschaft, um die primär körperlichen Behinderungen – wir drei sitzen hier alle mit einer Brille - um unsere Sehbehinderung zu überwinden, brauche ich ein Instrument, ein Hilfsmittel. Und dann kann ich wieder lesen, dann bin ich wieder dabei. Dann weiß ich, was in der Zeitung steht. Aber ohne diese Brille könnten wir daran nicht teilnehmen. Das sind also diese Unterstützungsmittel, diese Instrumente, die mir helfen, eine Behinderung zu überwinden. Und die müssen wir auch im Sozialen anbieten, die müssen wir auch in vielen anderen Bereichen anbieten. Das ist etwas, was in den letzten Jahren, denke ich, verstärkt wahrgenommen wird: dass Behinderung nicht primär medizinisch ist. Es gibt eine Dysfunktion, wie wir es nennen: Etwa wenn ich mir einmal das Bein gebrochen habe und nicht mehr gehen kann, oder wenn ich vielleicht ein Bein verloren haben: Das bedeutet, ich muss irgendetwas anderes haben, etwa eine Prothese; oder wenn ich von heute auf morgen gelähmt bin, dann brauche ich, um mich fortzubewegen, einen Rollstuhl. Dann möchte ich in einen Raum, der hat Stufen und ich komme nicht hinein. Das alles sind Barrieren, durch die behinderte Menschen nicht teilnehmen können.

Das wird heute soweit gesehen, dass ein Text, den die Regierung vorbereitet, etwa ein neues Gesetz zum Thema »Unterstützung von behinderten Menschen« in einer hoch juristischen Sprache - und kein Mensch versteht das. Deshalb sagen wir: Diese Texte müssen auch barrierefrei gestaltet werden, also in einfacher und verständlicher Sprache.

Das wären Richtungen, wie wir Barrieren abbauen. Aber Behinderung ist keine medizinische Einheit. Es ist ein soziales und gesellschaftliches Phänomen. Und, wie es sehr oft gesagt wird: Behindert ist man nicht, behindert wird man.

Das stimmt zu hundert Prozent: Man hat einen Unfall, ich habe einen Beinbruch, ich kann ein Auge verlieren, ich kann auch einen Hirnschlag erleben und dann verstehe ich verschiedene Worte nicht mehr gut, oder ich kann nicht mehr sprechen, und ich verliere vielleicht mein abstraktes Denkvermögen dadurch, aber ich bin emotional voll da und kann Trauer und Freude von den anderen wahrnehmen, aber meine Gedanken funktionieren nicht mehr so abstrakt, logisch und sicher, und mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut... Das bedeutet, dann habe ich einen Ausfall einer Körperfunktion.
Und je nachdem, wie darauf reagiert wird, werde ich behindert. Wenn ich bei diesem Ausfall unterstützt werde, kann ich meine Behinderung überwinden.

DIDAKTIK: Jetzt haben Sie selbst schon einige Beispiele genannt, etwa die juristischen Texte, die sehr schwer zu verstehen sind - nebstbei nicht nur für Leute mit Behinderung, sondern fast für uns alle: Ist das nicht ein ähnliches Phänomen, dass die Bürokratie früher einen Zustand festlegen wollte, aber heute mehr auf die Menschen und ihre individuellen Bedürfnisse zugeht?

Ich möchte nur die »Sachwalterschaft« als ein Beispiel für ein ganz starres juristisches Modell erwähnen, wo auch die soziale Sichtweise wenig berücksichtigt wird oder als ein zweites Beispiel die Sonderschulen. Da hat man früher die Schüler in eigene Abteilungen und eigene Räume gesteckt, sehr separiert - und man hat doch heute mit Pisa feststellt, dass die Individualisierung eigentlich etwas ganz wichtiges ist, und dass dies in einem inklusivem Verband passieren soll.

Germain WEBER: Diese zwei Bereiche sind sicherlich ganz zentral: Also Schule als Ort des gemeinsamen Lernens oder Schule als ein Ort, wo ich schon sehr früh in meinem Leben von anderen Menschen abgetrennt werde. Das sind Modelle, die da sind: Die kann man sicherlich historisch erklären. Wenn man sich das historisch ansieht, so ist das mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19.Jahrhundert entstanden. Als alle Kinder des Dorfes in die Dorfschule geschickt worden sind, haben doch auch die Lehrer und auch andere Personen bemerkt, dass diesem Programm, das damals konzipiert war, bestimmte Kinder überhaupt nicht mitgekommen sind.

Da hat sich dann etwas herausgestellt: Wir haben das Recht und die Pflicht, alle Kinder zur Schule zu schicken. Damals, und das ist überhaupt kein Vorwurf, hat man sich aber nicht angestrengt, und nicht gefragt: Wie können wir den Unterricht so gestalten, dass alle teilnehmen können? Sondern man hat gedacht: Aha, diese Kinder passen nicht so gut in diese Unterrichtsform - und diese Unterrichtsform ist nie in Frage gestellt worden - sondern bauen wir für die eine Extra-Schule, wo die auch gut lernen können. Man war sich also der Konsequenz dieser Separation, dieser Trennung in sehr frühem Alter überhaupt nicht bewusst:

Dass da zwei Gruppen von Gleichaltrigen aufwachsen, die sich nie mehr in ihrem Leben begegnen und die einen immer in einem Sonderbereich sind und immer geschützt sind und immer geschützt werden müssen (für mich war immer die Frage: wovor und vor wem?). Später im Leben waren sie dann in Großeinrichtungen. Dann, in den 1960er-Jahren haben wir begonnen, für das Erwachsenenleben Werkstätten für behinderte Menschen zu bauen, das war damals ein Fortschritt, weil wir sonst nichts hatten. Heute können wir das auch konsequenter Weise in Frage stellen:

Ist das der richtige Weg? Denn wenn wir sagen »Inklusion« und »gemeinsam«, dann ist das eine Arbeit und ein Arbeitsplatz wie für alle anderen Menschen auch und der gehört da hin. Es gibt bestimmte Kompetenzen und bestimmte Fähigkeiten, und der eine kann das zu diesen Arbeiten beitragen und der andere kann etwas anderes dazu beitragen. Ich bin noch keinem Menschen mit irgendeiner Behinderung begegnet, der nicht in irgend einer Form an einem Arbeitsprozess hätte teilnehmen können.

Das muss man sich also überlegen und ansehen - und da sind wir dann bei der individuellen Betrachtungsweise: dass jeder Mensch einzigartig ist, dass jeder Mensch Kompetenzen hat, jeder Mensch Schwächen hat. Wir sollten also schauen: Wo sind die Kompetenzen eines Menschen, wo gehört er unterstützt? Und auf dieser Ebene unterstütze ich ihn bereits im Kindergarten, bereits in der Volksschule und in den weiteren Bildungs- und Berufsbildungsprogrammen. Und dann mache ich diese individuelle Unterstützung dort, wo alle anderen Kinder auch sind. Wenn ich das einmal individuell gemacht habe, hat jeder ja seine bestmögliche Unterstützung für seine bestmögliche Entwicklung - und das eben auch zusammen!

Und auf die Qualität »Zusammen« – Sie haben es angesprochen – wird auch in der Pisa-Studie hingewiesen: Länder, in denen eine inklusive Schule schon seit längerem gelebt wird, die zeigen in der Regel auch einen großen Vorteil für diese Kinder auf, die, so sage ich einmal, möglicherweise »kleine akademische Genies« sind: Denn auch die, die Hochbegabten, werden so besonders gefördert. Das heißt nicht, dass in einer Schule für alle, immer alle von acht bis neun im gleichen Raum sitzen, sondern man ist mit verschiedenen Personen zusammen, um bestimmte Bildungstätigkeiten und Bildungsprogramme zu machen und ist für eine andere Tätigkeit mit anderen Personen zusammen - aber immer mit behinderten und nicht behinderten Menschen zusammen. Das ist etwas, wie es in vielen Bereichen realisiert wird: Jeder hat sein individuelles Programm. Es setzt ein gewisses Umdenken in der Vorbereitung auf den Unterricht voraus: die Anstrengung ist also, wie wir das schon hatten, nicht vom behinderten Menschen zu leisten, sondern in diesem Fall vom pädagogischen Personal.

Die müssen sich von bestimmten didaktischen Konzepten abwenden, die für eine homogene Klasse gedacht waren, wo man davon ausgegangen ist, da sitzen jetzt Achtjährige, und für diese dreißig ist jetzt genau mit diesem Programm alles richtig. Dass das nicht stimmt, das haben wir ja auch gesehen: Da gibt es drei, die weichen ab, weil sie mit diesem Programm unterfordert sind, und drei weichen ab, weil sie mit diesem Programm überfordert sind - und wir haben sechs Verhaltensauffälligkeiten! Dann brauche ich Psychologen, um das wieder zu bearbeiten, aber das ursächliche Problem ist nie geregelt worden...

DIDAKTIK: Und an diesem Beispiel und an vielen Beispielen sieht man dann ja auch, dass etwas, was angeblich für die behinderten Menschen gemacht worden ist, dann, wenn man es ändert, in Wirklichkeit ja für alle wichtig ist: Es sind ja sehr ähnliche Dinge, die Kinder mit hohen Begabungen brauchen, wie jene mit Behinderungen. Abgesehen davon, dass Menschen, die Behinderungen haben, auch sehr hohe Begabungen haben können.

Noch eine Frage zur Sachwalterschaft: Was auch noch im Raum steht, ist, dass Menschen mit Sachwalterschaft viele Extra-Gebühren zahlen müssen, seit dem Budget 2010 sogar auch an das Gericht.

Germain WEBER: Es ist jetzt dreißig Jahre her, seit das Gesetz zur Sachwalterschaft in Kraft getreten ist.

DIDAKTIK: 1980...

Germain WEBER: Ja, richtig. Und wir werden jetzt übernächste Woche im Justizpalast, wo man auch wieder einmal kritisch über das reden kann, eine Geburtstagsveranstaltung anlässlich des dreißigsten Geburtstags der Sachwalterschaftsvereine feiern, die damals auch entwickelt worden sind.

Aber ich wollte sagen: Damals war dieses Gesetz über die Sachwalterschaft ein neues Gesetz, es hat etwas überwunden. Österreich ist dafür jahrelang, sogar von den im Sozialbereich fortschrittlichen Ländern für dieses extrem fortschrittliche Sachwaltergesetz bewundert und beneidet worden. Denn man ging damals davon ab, eine Person so zu beurteilen, dass sie jegliche Rechte als Bürger verliert, wenn sie vorher unter Vormundschaft gesetzt worden ist. Aber jetzt gab es zeitlich befristete Sachwalterschaften, wenn es beispielsweise um eine Erbschaft ging. Wenn die Situation zu komplex ist, dass die Person, die eben auch als Erbe berechtigt ist, hier zwei Monate nur zum Punkt Erbschaft eine Unterstützung hat. Ist das geklärt, ist diese Sachwalterschaft wieder beendet.

Das war der ursprüngliche Gedanke und deshalb ist auch gepriesen worden, wie fortschrittlich Österreich war. Doch was haben die Gerichte gemacht? Weil eine Person eben heute mit der Erbschaft, im nächsten Jahr mit einem anderen Thema gekommen ist, mussten die Gerichte immer wieder aktiv werden, um eine beschränkte befristete Sachwalterschaft auszusprechen. Ich vereinfache es jetzt sicherlich ein bisschen:

Dann haben die Gerichte reflexartig wieder gesagt: Na, dann geben wir der Person wieder eine umfassende Sachwalterschaft. Also wir hatten dann ein modernes Gesetz, aber es wurde im alten Geist gelebt.

Im Sachwalterschaftsgesetz steht auch drinnen, dass der Sachwalter für das persönliche Wohl der jeweiligen Person zuständig ist. Tatsache ist, dass wir sehr viele Sachwalterschaftsbüros hatten, Kanzleien von Anwälten hatten, die hunderte von Personen besachwaltet haben...

DIDAKTIK: ... über tausend...

Germain WEBER: ... die diese Person niemals wirklich gesehen haben. Also sie konnten das auch nicht wahrnehmen. Die Reform vor ein paar Jahren hat versucht, das einzuschränken, sodass man nur noch eine bestimmte Anzahl haben kann. Das wird auch schon wieder verwässert.

DIDAKTIK: Ja, was sagen Sie denn dazu, dass das letzte Budget-Begleitgesetz bestimmte, ganz wichtige Passagen, über die zuvor jahrelang diskutiert worden ist, einfach ausgehebelt hat und Gerichtsgebühren eingeführt worden sind?

Germain WEBER: Da haben wir von der Lebenshilfe massive Proteste aufgenommen. Ich kann Ihnen jetzt eine kleine Anekdote dazu erzählen:

Sie sagen richtig: Budget-Begleitgesetze. Diese sind, wie das beim Budgetgesetz durchaus üblich ist, in letzter Minute gemacht worden. Dann sieht man, dass das Budget nicht in der Balance ist, wie man es haben muss, und dann gibt es Budget-Begleitgesetze dazu, damit ich die gewünschte Gewichtung des Budgets erziele: Und im Bereich der Justiz, in der ja eine riesige Reform in Österreich durchgeführt wird, wurde dann gesagt: Die Justiz muss Eigenbeiträge machen. Dann erst wieder investiert hier auch der Bund. Es sollten also eigene Gelder erwirtschaftet werden. Und da ist dann die Idee aufgekommen, für bestimmte Leistungen, bei denen Personen immer wieder und häufig zu Gericht kommen, wie etwa in Streitfällen bei der Obsorge: Wenn sie sich nicht einigen können, dann sollen sie auch etwas zahlen. Was aber in den Budget-Begleitgesetzen beachtet wurde, ist, dass Menschen mit Behinderungen, die besachwaltet sind, ja jährlich regelmäßig kommen müssen.

Die Anekdote dazu ist nun, als wir von der Lebenshilfe Österreich Presseaussendungen gemacht und dagegen haben, haben wir auch einen Brief an den Vizekanzler und Finanzminister Pröll geschickt. Ich habe zwei, drei Tage später einen Anruf direkt aus dem Büro des Vizekanzlers bekommen, wo mir einer seiner Büroleiter fast wörtlich gesagt hat: Herr Weber, wir entschuldigen uns dafür, wir haben das nicht mitbedacht. Wir werden das so schnell wie möglich reparieren. Wir sind im Gespräch, dass das repariert wird. Sie wussten nicht, dass das für Menschen mit Behinderungen in diesem Ausmaß zutrifft. »Das wollten wir nicht so.« Wir gehen davon aus, dass dies im nächsten Budget 2011 repariert wird.

DIDAKTIK: Das heißt, diese Sonderzahlungen sollen wieder abgesetzt werden?

Germain WEBER: Ja. Das ist das, wofür die Lebenshilfe sich einsetzt und wofür wir vom ersten Tag an protestiert haben. Jedenfalls sind die Proteste so angekommen, dass sie es für wichtig gehalten haben, sofort anzurufen und sich quasi entschuldigt haben.

Und so geschieht ja einiges, wie wir wissen, durch die Schnelllebigkeit politischer Entscheidungen, sodass die Komplexität der Materie nicht ganz durchdacht worden ist.
Ich habe es immerhin für ein positives Zeichen aufgenommen, dass man das man das auch selbstkritisch sieht.

DIDAKTIK: Wobei komplizierte Regelungen ja prinzipiell ein Problem für Menschen sind, die Lernbehinderungen haben. Mein Kollege etwa bezieht Waisenpension mit Ausgleichszulage. Wenn er eine Kleinigkeit dazuverdienen will, dann muss er aufpassen, dass das nicht sofort abgezogen wird. Viele Sachwalter genehmigen daher solche Arbeiten erst gar nicht. Falls es doch gelingt, zieht sich in diesem Fall der Sachwalter, von all dem, was unser Mitarbeiter verdient, einen Betrag ab, und nun zieht sich auch das Gericht einen Betrag ab! Mit solchen Sondersteuern oder Abzügen sind ja alle anderen Menschen eigentlich gar nicht konfrontiert.

Und dann gäbe es noch eine weitere Frage: Wie ist denn das nun mit der Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Lernbehinderungen? Es gibt zwar die Werkstätte, aber wenn Menschen mit Lernbehinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten wollen, da tut sich eine Fülle Hindernisse auf. Es gibt finanzielle Hindernisse und strukturelle Hindernisse, die unmittelbar nichts mit der eigentlichen Behinderung zu tun haben.

Germain WEBER: Also der erste Arbeitsmarkt ist sicher für Menschen mit Behinderungen nicht einfach zu erreichen: Erstens haben wir noch immer Quotenregelungen, die sicherlich auch eine Hürde für Arbeitgeber ist. Wenn man keine Menschen mit Behinderungen anstellt, dann zahlt man eine Ausgleichstaxe - und das machen einige Betriebe sehr gern, sogar die öffentliche Hand ist der Betrieb, der die meiste Ausgleichstaxe zahlt, weil sie zu wenige Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Das mag zwar in einigen Bereichen zutreffend sein: Rollstuhlfahrende Polizisten wird es möglicherweise nicht so bald geben, denn die sollen ja schnell laufen können und physisch stark sein. Für manche Sparten wird dies daher schwierig sein. Aber in der Verwaltung, also der Polizeidirektion, kann ich mir vorstellen, dass durchaus auch Menschen mit Behinderungen ihre Anstellungen finden.

Ein anderer Aspekt ist, dass die arbeitsrechtliche Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten, von Menschen intellektuellen Beeinträchtigungen in Österreich nicht wirklich gegeben ist. Wir schicken die Menschen in die Behindertenwerkstätte. Wir schicken, sage ich: Viele Menschen würden am liebsten nicht dorthin gehen, einige gehen auch gerne dorthin. Da sind sie in »Beschäftigungstherapie«. So nennt man das in Wien. In Tirol sind sie in »Rehabilitation«. Ich schicke also einen Menschen mit Behinderung ein Leben lang in Rehabilitation! Das ist schon ein Widerspruch in sich, denn Rehabilitation, ist etwas, wenn ich

DIDAKTIK: ...beispielsweise einen Autounfall habe,...

Germain WEBER: ...dann muss ich wieder lernen, meine Muskeln zu stärken und nach zwei Monaten kann ich wieder meine 100 Meter so laufen wie vorher. Dann ist dieser Mensch gut rehabilitiert. Aber jemanden ein Leben lang in Rehabilitation zu schicken, ist ein Widerspruch: Das ist keine Rehabilitation, was da geschieht, ist Aufbewahrung.

Diese Personen sind aber tätig und erleben ihre Tätigkeit wie eine Arbeit, bekommen aber dann lediglich - von Bundesland zu Bundesland abhängig - ein gewisses bescheidenes Taschengeld. Über das können sie auch nicht immer frei verfügen, da es sehr häufig in solchen Einrichtungen mit pädagogischen Maßnahmen zur Verteilung kommt.
Also auch dieser Anspruch, den sie eigentlich haben, wird wieder kontrolliert und mit Verhaltensmaßnahmen geregelt.

Was wir von der Lebenshilfe fordern, ist, dass Menschen mit Lernbehinderungen, mit intellektuellen Beeinträchtigungen ein arbeitsrechtliches Statut in Österreich bekommen. Dass sie auch - ob das der primäre Arbeitsmarkt ist - oder in der neuen, inklusiven Werkstatt ist, wo dann auch Nicht-Behinderte arbeiten, dadurch ein Anrecht auf ein geregeltes Einkommen haben: das ist das Thema Selbstbestimmung, auch das Thema Pension und auch das Thema reguläre Krankenversicherung: Viele Menschen mit Behinderung sind über die Familie oder über die Waisenpension krankenversichert, aber nicht auf der Grundlage von ihrem eigenen produktiven Teilnehmen an der Gesellschaft.

In Österreich hat man schon ein gutes Sozialabfederungssystem für Menschen mit Behinderungen aufgebaut. Nur orientiert es sich aus der Sicht des Kindesstatuts!
Das, denken wir von der »Lebenshilfe Österreich«, ist erwachsenen Menschen gegenüber unhaltbar. Wenn wir das mit den Kollegen aus der Schweiz, aus Deutschland, aus Frankreich oder aus Luxemburg diskutieren, dass wir von einem Kinderrechtsstatut ausgehen, auch wenn die Person schon vierzig, fünfzig oder sechzig Jahre alt ist, wundern sie sich. Denn dort ist es ganz anders. Dort gibt es am Erwachsenen orientierte Statute.

Es heißt nicht, dass das unbedingt besser ist. Aber was ich sagen will: Österreich hat viel Geld in diesem Topf. Und dieses Geld wollen wir in Erwachsenen gerechte Formen umtopfen. Weg von diesem Kinder-Denkschema. Unterstützung von erwachsenen Menschen: Das hat etwas mit Würde, mit Respekt, mit Ethik zu tun, wie Gesellschaft mit diesen Personen umgeht.

DIDAKTIK: Wir haben noch zwei Fragen, die sehr eng mit diesem Bereich zu tun haben: Sie haben vorhin Einrichtungen erwähnt. Die gibt es auch in der Kirche. Im Jahr 2010 sind vor allem in der Kirche (aber nicht nur dort) erschütternde Berichte über Missbräuche von Kindern und Schutzbefohlenen in Einrichtungen bekannt geworden. Wie sieht hier ethisches Handeln aus? Was kann und soll jemand tun, dem dies bekannt wird, wie sollen die Betroffenen, wie soll die Gesellschaft insgesamt darauf reagieren?

Germain WEBER: Wenn man von einem Missbrauch in einer Behinderteneinrichtung erfährt: Meine Empfehlung ist, diesen Missbrauch bei Personen seines Vertrauens zu deponieren. Diese hat man hoffentlich in seiner Umwelt, wenn man ein unterstützendes Umfeld hat.
Missbrauch, der gemeldet wird, ist ernst zu nehmen. Das heißt nicht, dass man damit zugibt, das war alles genauso. Aber das ist ernst zu nehmen. Dem muss man nachgehen.

Innerhalb der Lebenshilfe Österreich haben wir uns auch darüber Gedanken gemacht - es gibt interne Ombudsstellen bei den verschiedenen »Lebenshilfe«-Einrichtungen in den österreichischen Bundesländern. Da kommt es aber auch vor, dass da keine Klärung herbeigeführt wird und dann haben wir gesagt: Als »Lebenshilfe Österreich« stehen wir zur Verfügung! Wenn es zu einem Streitfall kommt oder einem Thema dieser Art innerhalb einer Einrichtung eines Bundeslandes nicht weitergeht, wird das mitunter benutzt, und wir können dann auch diese Situationen in der Regel intern klären.

Es gibt diese Situationen ja - mir sind in Österreich ja auch viele andere Einrichtungen bekannt, teilweise sogar sehr gut bekannt - das kommt in jeder Einrichtung vor, dass es Missbrauchs-Situationen gibt. Das ist da, wo Menschen sich treffen, sich begegnen. Da gibt es Missbrauchs-Situationen. Das haben wir auch an der Universität Wien - unter Mitarbeitern, die sich gegenseitig nicht respektvoll verhalten. Da müssen wir auch entsprechende Instrumente haben, um dann hier Nachforschungen zu machen, um dann Klärungen herbeizuführen.

Ich denke, dass wir diese Missbrauchs-Situationen in unserer Gesellschaft sicherlich nicht absolut aus der Welt schaffen können. Wir können aber Vorsorge dafür tragen, dass wir »Qualitätssicherungssysteme« haben. Es ist nämlich bekannt, wenn es zu einem sexuellen Missbrauch kommt, oder zu körperlichen Missbrauch kommt, dass es dafür Zeichen gibt. Darüber kann ich meine Belegschaft informieren, um sie sensibel zu machen: wenn ein Missbrauch aufgetreten ist, um möglicherweise dann an einer anderen Stelle zu berichten, dann soll man nachfragen, da könnte etwas in dieser Richtung geschehen sein. Das wäre etwas, das Einrichtungen machen können. Das ist sehr wichtig: Auch müssen Einrichtungen Pläne haben, um präventiv Missbrauch zu verhindern. Das ist das, was wir fordern. Sie müssen aber auch Pläne haben, wie sie vorgehen, wenn ein Missbrauchsfall berichtet wird. Da muss ein konkreter Plan in der Schublade sein, den man in dieser Situation herausziehen kann. Damit nicht erst dann, wenn dieses berichtet wird, die Frage auftaucht: »Oh je, was soll ich jetzt tun?« Dann weiß ich es nicht und versuche, es wieder unter den Teppich zu kehren, weil ich mir keinen Plan gemacht habe, wie ich damit umgehen soll.

Und da geht es so weit, dass das letztlich bis zum Behindertenanwalt gebracht werden kann.

DIDAKTIK: Sie haben vorhin über dieses übertriebene Behüten wie bei Kindern gesprochen, wenn man die Leute immer schützen will, das ganze Leben hindurch, was zu Unselbständigkeit der Menschen führt. Wäre es da nicht besonders wichtig, dass es da dann eine Art von Selbstvertretung gibt, die unabhängig von den jeweiligen Einrichtungen ist?
Denn Selbstvertretung gibt es zwar, aber es leider noch immer so, dass sie in den Einrichtungen abhängig sind und das macht, was die Einrichtung sagt, und nicht das, wie es eigentlich gehört.

Germain WEBER: Das sind die Marionetten-Selbstvertretungsgruppen, die es geben könnte, die mir aus dem Ausland auch durchaus bekannt sind. Ich kenne aus dem Ausland auch Beispiele, die in einer gesunden Selbstvertretungs-Struktur sehr unabhängig aufgestellt sind und die nicht letztendlich unter der Fuchtel eines Dienstleistungsanbieters stehen.

Erster Punkt: Die Selbstvertretung ist ein ganz wichtiges Instrument der Behindertenarbeit für die nächsten Jahre. In Österreich kann man erste Initiativen in der Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten beobachten: People First.

Die ersten Gruppen sind von innen heraus unterstützt worden. Man muss diese Gruppen auch in eine »Erwachsenenform« hineinwachsen lassen, damit sie selbständig werden können. Die große Frage, die sich da immer auch stellt, ist: Wenn ich mich treffe, und wenn ich diese Arbeit gut machen will, brauche ich gewisse Ressourcen. Ich muss mich treffen können, ich muss von A nach B fahren, ich muss einen Tag woanders sein, der Tag ist zu finanzieren, die Reise ist möglicherweise zu finanzieren: Wie komme ich an das Geld?
Meiner Meinung nach sie die Interessensverbände und auch Dienstleistungsverbände sehr gut beraten, hier finanzielle Ressourcen aufzubauen - durchaus möglicherweise in einer unabhängigen Stiftung, die die Selbstvertretungsorgane von Menschen mit Behinderung in Österreich finanzieren - unabhängig von den Finanzen, die Einrichtungen vom »Fonds Soziales Wien« bekommen, um die Supportarbeit zu machen, die alltägliche Unterstützungsarbeit, also das auch finanziell voneinander zu trennen.

Hier müsste man - ich denke, dass da das Geld in Österreich auch vorhanden ist - man müsste da ein gutes Projekt hinlegen, Menschen in Österreich sind auch immer wieder dazu bereit, etwas aus ihren Privatmitteln zu spenden: Ich denke, wir müssten auch diese Spendenpolitik in eine neue Selbstbestimmungs- nicht nur Behinderten-Mitleids-Motivstruktur hineinbringen. Da ist viel zu machen. Da arbeiten wir auch daran. Das ist mein Traum: dass die Selbstbestimmt-Gruppen finanziell unabhängig werden.
Sie werden jetzt also nicht zu Millionären, aber sie haben bescheidene Mittel, mit denen sie ihre Arbeit durchführen können.

Selbstbestimmung ist, wenn ich das bekomme oder das realisieren kann, auch für andere - das ist angesprochen worden. Wenn es irgendwo Miss-Stände gibt, sodass eben auch Menschen mit Behinderungen, die Missbrauch erlebt haben, sich an Selbstbestimmt-Gruppen wenden können, und wo man da vertrauensvoll berät, und wo man dann auch im Umkreis auch Unterstützer hat, die auch rechtlich gute Kompetenzen haben und die dann einen Weg aufzeigen, wie man so eine Situation weiter betreibt - sei es in einem Verfahren, um einen Ausgleich zu finden - wir nennen das Mediation, oder ob man die höchste Stufe gehen soll, also vor Gericht gehen soll, jemanden zivilrechtlich klagen. Das wäre etwas, auf dem man aufbauen kann.

Um auf die Lebenshilfe zu kommen: Wir haben bereits vor vier Jahren auf der Ebene der »Lebenshilfe Österreich« neue Statuten gegeben und haben gesagt: »Wir setzen gerne einen Selbstvertreter-Beirat ein. So wie wir einen Beirat der Geschäftsführer aus den neun Bundesländer haben, haben wir auch einen Beirat von Selbstvertretern aus den neun Bundesländern konzipiert. Den finanzieren wir derzeit aus eigenen Mitteln: Wie gesagt: Aus jedem Bundesland kommen zwei Menschen mit Behinderungen als Delegierte in diesen Selbstvertretungs-Beirat.

DIDAKTIK: ...die aus den eigenen Einrichtungen kommen?

Germain WEBER: Ja, aus den Lebenshilfe-Einrichtungen. Wir hätten gern Selbstvertreter aus den Einrichtungen. Wir haben eine Empfehlung gegeben, dass diese Entsendung der Selbstvertreter durch Wahlen unter den Menschen mit Behinderungen zustande kommen - nicht dass vom Boss der Lebenshilfe des zehnten Bundeslandes gesagt wird: Du und du, ihr geht in den Selbstvertreterbeirat! Wir wollen, dass die Menschen, die in der Lebenshilfe dieses zehnten, nicht vorhandenen Bundeslandes sind, durch einen Wahl- und Aufklärungsprozess selbst die geeigneten Personen wählen, die dorthin gehen. Diese Personen treffen sich viermal im Jahr irgendwo in Österreich und reden über Themen, die sie sich selbst geben oder von denen wir, die Lebenshilfe Österreich, gerne die Meinung des Selbstvertreterbeirates hätten. Wir treffen dann keine Entscheidung, solange wir nicht wissen, was der Selbstvertreterbeirat dazu gesagt hat.

Das war ein großer Schritt voran! Die Selbstvertreter der Lebenshilfe Österreich haben sehr viel gelernt. Es war phantastisch zu sehen, welche Entwicklungen sie gemacht haben. Wenn ich mich an das erste Meeting erinnere, als wir im Vorstand der Lebenshilfe Österreich als Gast zum ersten Mal zwei Selbstvertreter hatten, sind sie zu Wort gekommen und haben sich da zu einem Thema geäußert.
Dann haben sich nach der Wortmeldung Teilnehmer aus dem Vorstand in Anwesenheit der Personen zu Wort gemeldet: »Da sieht man ja, wie schwierig das ist: Ich habe kein Wort verstanden!« Ich habe mich dann gemeldet: Ich habe bestens verstanden, was diese Person, dieser Herr oder diese Dame gesagt hat. Ich habe das in meinen Worten wiederholt und habe beim Selbstvertreter nachgefragt, ob es das war, was er gesagt hat. Und er hat zugestimmt: »Das ist genau das, was ich gesagt habe!«

Es kann also nicht an dem liegen, was er gesagt hat, denn ich habe es verstanden. Jetzt sind wir bei dem Thema von vorhin: Nur weil ein Anwesender es nicht gewohnt war, Menschen mit Behinderungen zuzuhören,[konnte er ihn ohne Unterstützung nicht verstehen.]
Der Selbstvertreter, ein Mann, hatte Schwierigkeiten mit der Artikulation der Zunge, eine motorische Sprachschwierigkeit, keine kognitive Beeinträchtigung - und es war nicht einfach ihn zu verstehen. Man hat also sein Ohr anders spitzen müssen, um ihn zu verstehen. Aber es war möglich, ihn zu verstehen. Heute, nach vier Jahren, gibt es niemanden mehr in dieser Runde, der sagen würde: Das ist unmöglich, denn ich kann ihn nicht verstehen. Man hat gemerkt: Auch wir müssen uns anstrengen, den Selbstvertreter zu verstehen.

Und jetzt fordern die Selbstvertreter in logischer Konsequenz das Stimmrecht im Vorstand. Das werden wir sicherlich bei unserer Statutenreform berücksichtigen: Morgen in einer Woche sitze ich mit einer Gruppe der Lebenshilfe aus Österreich hier, um über die neuen Statuten zu reden - und das wird einer der zentralen Punkte sein.

DIDAKTIK: Und wird es da Widerstand geben?

Germain WEBER: Nein. Aus den Bundesländern, aus denen ich den größten Widerstand erwartet habe, habe ich ein prinzipielles »Ja« bekommen, wenn sie als Organ konstituiert sind. Sie müssen also ein Verein sein. Denn Mitglieder der Lebenshilfe Österreich können nur Vereine sein, nicht Einzelpersonen.

DIDAKTIK: Das heißt: Die Selbstvertreter bekommen ihren eigenen Verein?

Germain WEBER: Das wäre jetzt eine Antwort, es gibt aber auch noch andere Modelle, wie wir das machen können. Das andere Modell: Der Selbstvertreterbeirat ist ein Beirat, so wie der Geschäftsführerbeirat auch ein Beirat ist. Und der Beirat entsendet eine Person mit Stimme in den Vorstand. Das werden wir diskutieren.

Also es geht schrittweise weiter. Es ist sehr wichtig und es bringt eine ganz neue Qualität in unsere Diskussionen: das wir respektvoll miteinander reden und dass wir auch gemeinsam reden: Wenn wir schon für Inklusion sind, dann kann die »Lebenshilfe Österreich« nicht sagen: »Nein, wir treffen uns aber weiterhin nur unter uns! Die Menschen mit Behinderungen können zwar im Zimmer nebenan miteinander reden, sie können uns auch in der Pause erzählen, was sie geredet haben, aber zu uns an den Tisch lassen wir sie nicht.«

Das ist sicherlich ein Weg, den wir nicht gehen wollen!

Was also sehr wichtig ist, ist dass die »Personenzentrierte Unterstützung« und die »persönliche Lebensplanung« ganz wichtige Elemente sind, um die Qualität, über die wir jetzt gesprochen haben, sicherzustellen. Dazu gehört auch Empowerment und persönliches Budget. Das sind große Themen, aber auch eine Orientierung an den Sozialraum: Dass man nicht nur in ein bestimmtes Eck integriert, sondern dass eine Gegend, etwa ein Bezirk in Wien modellartig sozialraumorientierte Inklusion entwickelt. Es wäre für mich eine Vision, wenn da eine Gemeinde nicht einen Spezialbetrieb für das eine und dort einen Spezialbetrieb für das andere hat, sondern dass diese Betriebe jene Spezialitäten, die wir auch weiterhin benötigen, mitten in den Sozialraum bringen - nicht nur in getrennten Bereichen - und dass wir in den allernächsten Jahren in Österreich eine Schule für alle haben werden. Das ist mein größter Wunsch.

DIDAKTIK: Wir danken sehr herzlich für dieses Gespräch.

 
ZUR PERSON


Franz Hoffmann ist Vorsitzender von Freak-Verein für behinderte Menschen in den Medien. Er hat eine Lernbehinderung und hat sich nach einer Unterbringung in einer geschützen Werkstätte entschlossen, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er ist Experte für einfache Sprache und hat gemeinsam mit Gerhard Wagner 50 »Leichter Lesen«-Texte für Menschen mit Lernbehinderungen verfasst.

Mag. Gerhard Wagner ist seit 1993 Chefredakteur und Herausgeber des Bildungsmagazins DIDAKTIK sowie von DIDAKTIK-Online und verantwortlich für die inhaltliche Konzeption von didaktik-on.net.

Er hat an zahlreichen bildungswissenschaftlichen, didaktischen und sozialwissenschaftlichen Projekten, unter anderem als Projektleiter, mitgearbeitet.

Gerhard Wagner war in verschiedenen Kommissionen der Universität Wien Mitglied und später zunächst als Tutor, dann von 2004 bis 2009 als Studienassistent am Institut für die schulpraktische Ausbildung tätig (seit 2005 Teil des Instituts für Bildungswissenschaft an der Universität Wien). Bis 2011 ist er für die Universität Wien Projektmitarbeiter im von der EU geförderten Projekt »Hook up!«, an dem zehn europäische Universitäten eine Sprachlernplattform für Austauschstudierende erstellen.

Seit 2011 unterrichtet er, zunächst an einer AHS in Niederösterreich, jetzt in Wien, Deutsch, Deutsch als Zweitsprache sowie Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung.

Des weiteren ist Gerhard Wagner Mitarbeiter der integrativen Redaktion von Freak-Radio und Chefredakteur von Freak-Online. In beiden Redaktionen erarbeiten Menschen mit und ohne Behinderung Informationen über behinderte Menschen.
-> http://freak-online.at
-> https://www.facebook.com/gerhard.wagner1/about?section=bio


altes Logo der Zeitschrift Didaktik © Didaktik, (http://didaktik-on.net) 2011
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Artikel: Germain Weber im Gespräch mit Franz Hoffmann & Gerhard Wagner (2011): Interview:.»Behinderung ist eine Spielvariante der Natur, die der Menschheit hilft, sich weiterzuentwickeln«
aufgerufen am: 29. 3. 2024