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Über Sexualität, Gewalt und eine mögliche Thematisierung in der Schule
Handlungskompetenz ohne Polarisierung!

ROTRAUD PERNER IM DIDAKTIK-INTERVIEW MIT GERHARD WAGNER UND BRIGITTE BÜNKER


Brigitte Bünker und Gerhard Wagner fragen in diesem DIDAKTIK-Interview bei Rotraud Perner nach, wie sich ihr das Geschlechterverhältnis derzeit darstellt, und was man an Schulen und Bildungseinrichtungen unternehmen kann, um Gleichberechtigung und ein erfülltes Sexualleben zu ermöglichen.



DIDAKTIK: Wie ist Ihr Zugang zum Thema Gleichberechtigung der Geschlechter in der Jugendarbeit?

PERNER: Ich habe 1977-1987 in Jugendzentren gearbeitet, später noch supervidiert. Heute habe ich Leute aus den Jugenzentren in Ausbildung bei mir. Wir haben damals wirklich den expliziten Auftrag zu pädagogischer Arbeit gehabt mit dem ausdrücklichen Hinweis, die Geschlechterdifferenz zu berücksichtigen. Dazu sollten wir auch extra und ausgewiesen Lehrveranstaltungen anbieten. Gleichzeitig hatten wir den Auftrag, zu kritischem Denken, zur Verantwortlichkeit mit größtmöglicher Autonomie und zur Psycho- und Physiohygiene hinzuführen: dh. drogenfrei leben: überlegen, was ich in mich, in meinen Körper, auch auf der geistigen Ebene, in mich hineinlasse.
Wieweit das heute nach geschieht, weiß ich nicht. Ich vermute, dass heute vieles davon bereits in den ?ehrenamtlichen? Bereich abgewandert ist, was damals noch klar als Berufsauftrag da war.
Dieser klare Auftrag fehlt mir, wenn ich engagiert werde, im Schulbereich zu arbeiten: Dort wird an mich der Wunsch nach Supervision herangetragen, meistens dann, wenn Gewalt an der Schule erlebt wird - von Eltern, aber auch von Kollegen und Vorgesetzten. Dann wird viel im Bereich Sexualaufklärung nachgefragt, wobei mitunter erwartet wird, dass ich nur auf den Bereich Funktion der Geschlechtsorgane und Krankheitsverhütung eingehe, doch das ist mir zu wenig und das sage ich auch. Ein weiterer Aspekt: Wie schützen wir Kinder vor Gewalt, wie gehen wir damit um, wenn wir vermuten, dass Kinder Gewalt erleben? Überwiegend ist dieser Blickwinkel des sexuellen Missbrauchs im Vordergrund, vor allem im Pflichtschulbereich.
Bei den Mittelschulanforderungen ist der Rahmen meist nicht so spezifiziert, sondern die Schüler wünschen sich jemanden, mit dem sie über Sexualität reden können. Die Lehrer stehen manchmal wie zufällig dabei und horchen mit hochroten Ohren zu. Ich war z.B. in Wien in der Schule, wo die Frau Dr. Mock Direktorin ist: Damals wurde ich zunächst gebeten, den Lehrkörper nicht zu überfordern und nachher wurde gedankt, so sensibel auf das Thema eingegangen zu sein. Das ist die Konfrontation mit den Horrorvisionen! Ganz anders war es in der Schule Erzherzog-Karl-Straße/Polgarstraße mit einem »progressiven« Lehrkörper: »Sie können den Jugendlichen scho einiges sagen!« Aber schließlich wurde ein Thema von den Jugendlichen angesprochen, bei dem die Lehrer sich wunderten, gar nicht gewusst zu haben, »wie konservativ die Schüler sind«. Das ist immer eine Frage des Blickwinkels. Daher ist für mich in diesem Zusammenhang ganz wichtig, auf diesen Blickwinkel, auf das »Paradigma« zu achten, denn gerade in diesem, dem sexuellen Bereich, haben wir fast alle den Blickwinkel der Tagesmedien, und das ist ein juristischer; wir brauchen aber einen pädagogischen!
Das Paradigma bei Gewalt darf nicht jenes juristische sein: »Wenn du schlimm bist, kriegst du eine bestimmte Strafe«.
Das fehlende pädagogische Paradigma wäre hingegen: »Welches Verhalten wollen wir, und wie kommen wir dorthin? Wie vermittle ich didaktisch das Ziel mit allen Neben-, Unter- aber auch Gegenzielen? Und wie vermittle ich es so, dass eine Person eine Chance hat, ein eigenes Verhalten, das sozial angepasst und adäquat ist, erlernt und trotzdem kritisch bleibt?« Ich glaube, das ist eine immense Herausforderung! Wenn ich mich an der »Kronenzeitung« orientiere - und das tun halt viele Österreicher - lerne ich dann eine ganz andere Denkweise, nämlich: »der böse Täter«, »das arme Opfer« oder »das unglaubwürdige Opfer« und »der verleumdetete Täter«, also wieder einmal Polarisierungen (Sündenfälle), die nur helfen, Angst zu bekommen oder Wut, aber in keiner Weise vermitteln, was ich tun kann, wenn ich in eine Situation komme, wo jemand mich ausbeuten will. Hier sehe ich eine wichtige Herausforderung für die Pädagogik der Zukunft, weiß aber auch, dass wir in einen Bereich kommen, wo es für alle gefährlich wird: Denn wenn Kinder und Jugendliche ein Modell erlernen, sich zu wehren, dann trifft das natürlich auch die, die von angepassten und braven Kinder profitieren und das trifft besonders die, die Verantwortung für Kinder haben, egal ob das die Eltern sind oder professionelle Pädagogen im Heim oder in der Schule oder in der außerschulischen Jugendarbeit. Das wäre eine eine Herausforderung, an der eigenen Konfliktfähigkeit und der eigenen Streitkultur zu arbeiten - für mich ist das ein Beitrag zur Friedenserziehung!

DIDAKTIK: Können Sie uns jetzt, da Sie vorhin vom »Paradigma« gesprochen habe, können Sie ein bisschen vermitteln: Was sind so die Sorgen und die Nöte der Jugendlichen?

PERNER: Derzeit erlebe ich vielfach, den leidenden Aufschrei der jungen Mädchen, die sich über die Brutalität der jungen Männer beklagen: Das ist genau das, was ich in der Schule Polgargasse angesprochen habe: Das ist jetzt ein paar Jahre her, ich erlebe es aber in der Zwischenzeit nach wie vor. Es geht dabei um den Projektunterricht »Sexualität«: Ich war zwei Doppelstunden in zwei Klassen und zwar bei 11/12-Jährigen und 13/14-Jährigen. In beiden Klassen beklagten sich die Mädchen, die gerne wieder einmal Röcke tragen wollten, dass das nicht geht, weil ihnen die Burschen unter den Rock greifen. Die Burschen sind verlegen grinsend dabeigesessen. Die Lehrer wussten, dass dies ein Problem ist, wussten aber nicht, was sie dagegen tun sollen. Darauf habe ich dann gemeint: dass eben die eine Möglichkeit ist zu protestieren, und daran haben wir auch gearbeitet. Die andere ist, dass man Dinge öffentlich macht: Die Eltern werden also informiert, welches Verhalten kein richtiges ist - mit der Bitte, Hause darüber zu sprechen, dass dies eine Form von Gewalt ist, die ja auch Männer an sich nicht haben wollen - nämlich in Form körperlich unerwünschter Berührungen! Bei einem Elternabend haben dann manche Väter gemeint: »De Madln solln net so zimperlich sein!« und sogar Mütter haben das ganze nicht für so schlimm gehalten. Das Verleugnen des Leidens der Mädchen (und die haben wirklich gelitten, das war kein Schmäh), das habe ich immer wieder in den Schulen erlebt.
Ich war auch unlängst in einer Schule in der Steiermark - das war das erste Mal, dass ich das erlebt habe - wo sich ein Mädchen mit hochrotem Kopf gemeldet hat, geschluckt hat und gefragt hat: »Was tu´ ich, wenn ich mich von einem Lehrer sexuell belästigt fühl´?« Das habe ich sehr mutig gefunden: Wir sind ja erst am Beginn, dass die jungen Menschen realisieren, dass sie das nicht dulden müssen! Das ist genau die Problematik, nur: die Mädchen sind schon draufgekommen, dank Frauenbewegung, dass sie das nicht wollen, aber was passiert, wenn die Burschen anfangen, darüber zu reden, was sie an körperlichen Übergriffen nicht wollen? Denn ich weiß ja, aus meiner thearpeutischen Erfahrung mit Erwachsenen, wieviel Übergriffe es auf Buben gibt, die in allen Abwehrformen ins Gegenteil verkehrt werden: »Ach, ich war ja so frühreif und schon mit elf hat die Zwanzigjährige sich mir genähert! - Für mich ist das ein Missbrauch: Denn wenn´s die große Liebe ist, wird die Zwanzigjährige warten können, bis der Elfjährige fünfzehn ist oder sechzehn.«

DIDAKTIK: Das, was Sie jetzt ansprechen, ist ja noch immer ein Tabuthema. Von Übergriffen an Buben wird ja kaum gesprochen...
Außerdem steckt hier ja auch eine Verantwortlichkeit gegenüber Minderjährigen drin. Man spricht immer wieder davon, dass es sich da bei Erwachsenen um »unreife« Liebe handelt. Oder gibt es da doch eine Geschlechterdifferenz...?

PERNER: Die Geschlechterdifferenz ist für mich eine derzeitige Ebene des Überblicks, die sich möglicherweise in einer höheren Entwicklungsstufe wieder aufhebt und doch vielleicht eine Solidarisierung der Geschlechter möglich macht, weil der Kampf der Geschlechter für mich ein energetisches Geschehen ist: Wenn also die bioenergetischen Wellen zwischen Mann und Frau in der sexuellen Attraktivität hin- und herfließen, dann ist das etwas, das Sigmund Freud - so interpretiere ich ihn - mit der »Sexuellen Reife« gemeint hat. Dazu ist allerdings ein Großteil der Erwachsenen gar nicht fähig, weil viele auf einer früheren sexuellen Entwicklungsstufe hängengeblieben sind: Sie leben dann lieber eine Geschwisterbeziehung oder eine Vater-Tochter- und Mutter-Sohn-Beziehung. Von den Klienten und Klientinnen höre ich immer wieder, wie beliebt diese Mutter-Sohn-Beziehung ist: wobei es darum geht, versorgt zu werden und lieb gehabt zu werden und der Mami (=Ehefrau) alles antun zu dürfen, auch Freundinnen zu haben, aber mit der Ehefrau nur keine sexuelle Beziehung mit all dem Knistern und all den Nähe und Distanzgeschehen zu haben, wo halt die eheliche »Pflicht« ausgübt wird, aber es spielt sich energetisch nichts ab: keine Hingabe, keine Verschmelzung...

Was mir auffällt, ist, dass die Mädchen noch immer nicht ernst genommen werden, wenn sie Selbstäußerungen von sich geben. Ich höre, dass es noch immer sexistische Äußerungen von Lehrkräften gibt; was für mich eine Disqualifizierung der pädagogischen Arbeit ist: Denn ich kann zwar nicht verhindern, dass jemand den Sündenfall, das Auseinanderdividieren der Geschlechter in ihrem Rollenverständnis zu seinem Ziel im Unterricht macht. (1)

Ich höre aber ebenso, dass dieser Sexismus verletzend ist, und dass es nach wie vor sehr schwierig ist, sich dagegen zu wehren. Was ich für wichtig halte und was zur Gewaltprävenion gehört, ist, eine Form zu finden, jemanden anderen korrekt die Kommunikation ermöglichen: »Das hat mich verletzt, und ich will nicht verletzt werden.« Ich glaube, dass wir uns da alle in der Ethik treffen: Wir wollen nicht verletzt werden. Das übergeordnete Ziel ist für mich hier der Anspruch des Respekts vor der persönlichen leib-seelische-geistischen Integrität als etwas, das ich auch für mich selbst in Anspruch nehme.
Was mir ganz wichtig ist, ist das Problembewusstsein zu schärfen und zu überlegen, wie ich solche Gewalttätigkeien und Verletzungen durch Sprache vermeiden kann. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist zu einem Thema geworden. Gerade das heurige Jahr zeigt - auch durch die Fülle von Anzeigen und Prozessen - dass die Hochrechnungen mit jedes dritte, vierte Mädchen, jeder siebente bis zehnte Bub, keine Phantasien von irgendwelchen rabiaten Feministinnen sind, sondern Realität, die mutige Frauenrechtlerinnen aufgezeigt haben. Hier sind die Männer aufgefordert, ihre Position dazu zu beziehen, weil wir dringend männliche Modelle der Gewaltfreiheit brauchen - da gibts ja auch schon ein paar. Ich denke, dass es darum geht, sich als Pädagoge der eigenen Position zu Gewalt und zur Geschlechtlichkeit bewusst zu sein.

Es ist ja um den Medienkoffer sehr still geworden. Im September 1990 gab es im Unterrichtsministerium einen Arbeitskreis zur Einschulung der Mulitiplikatoren für die Arbeit mit dem Medienkoffer zur Sexualerziehung. Das war das letzte öffentliche Lebenszeichen zu diesem Thema. Es ist kein Thema mehr.

Ich hatte, als nach der letzten Regierungsbildung Unterrichts- und Familienministerin von der der selben Partei entsendet wurden, gehofft, dass es jetzt möglich ist, hier zu einem Neubeginn zu kommen: Von Lehrerseite ist ein großer Bedarf da, aber natürlich sind die Arbeitsmaterialien zum Teil nicht das, was der Lehrer braucht. Lehrende brauchen etwas anderes...

DIDAKTIK: ...vor allem auch für ihre eigene Entwicklung und ihre Positionsbestimmung...

PERNER: ...ja, für die eigene Entwickung, aber auch für die Handhabung im Unterricht. Ich weiß das, weil ich gerade in der Ausbildung im Rahmen meiner Dozentur an der Akademie für Ganzheitsmedizin sehr viele Lehrer in Ausbildung habe (vor allem AHS-Religionslehrer) und dadurch auch sehr genau sehe, was die brauchen. Sie brauchen nicht - schon wieder Sündenfall - die Spaltung in Theoriewissen und Anleitungen für Spiele in der Klasse, sondern sie brauchen eine Anleitung: Wie baue ich didaktisch ein bestimmtes Fachwissen mit einer Praxisanleitung in den vorgegebenen Unterricht ein?
Sie brauchen eine erprobte Mitte.

DIDAKTIK: ...da bin ich als Persönlichkeit...

PERNER: Genau das ist die Problematik! Der Lehrer selbst hat ja seine Werte und es wird ihm Wertfreiheit eingeredet...

DIDAKTIK: ...und sexuelle Identität und es wird ihm eingeredet und es wird ihm eingeredet, er muss ein asexuelles Wesen sein in der Schule!

PERNER: Genau! Es wird uns eingeredet, wir müssen asexuell sein, es ist uns peinlich, wenn wir jetzt merken, dass sich Aufmerksamkeit auf uns lenkt. Es ist peinlich, das weiß ich jetzt aus vielen Supervisionen, wenn ich jetzt als Deutschprofessorin »Faust« näherbringen möchte und in den Bänken die halbwüchsigen Männer sitzen und sie bei den Anbahnungsgesprächen taxieren und sich überlegen: Wie würde die reagieren? - Was passiert: »Ich werd knallrot und es versagt mir die Stimme, weil ich eben nicht locker bin.« Dann frage ich: Darf ich jetzt meine eigene Betroffenheit einbringen?
Als Analytikerin weiß ich natürlich - Einsteinsche Sichtweise - man kann die Dinge nur am Beobachter beobachten, ich bin eh präsent im Parallelprozess und ich frage dann: »Wollen Sie Ihre Betroffenheit einbringen? Fühl´n Sie amal nach!« Und dann kommt: »Ja eigentlich will ich schon, denn ich will ja etwas vermittlen, sonst wär ich ja nicht Lehrer/in geworden.« »So, OK und jetzt überlegen wir einmal: was gibt´s für Möglichkeiten? Wie können Sie´s einbringen? Ich habe meinen Stil, ich sage in meinem Fall immer: Wie sie merken, ist mir das unangenehm! - Man merk´s ja eh! Damit ist es öffentlich und keine Gewalt mehr: Denn solange ich mich klein mache, es mir unangenehm ist, ich das verstecken muss, bin ich bereits in einer schiefen Beziehung und gebe den anderen Macht.«

Wenn ich keine Macht geben will, muss ich mich deklarieren, muss dazu stehen. Das ist deshalb wichtig, weil es gerade auf dem heiklen Gebiet der Sexualtität so viele Machtspiele gibt: »Sei so, wie ich Dich brauche!« Und das läuft jetzt medial mit einer Sexindustrie dahinter, die natürlich ihre Produkte verkaufen will und die beinhart wirbt: Das sei so. Und es ist ja alles Suggestion. Auch jedes Wort, das ich spreche, ist Suggestion, daher muss ich mich dieser Verantwortung, was ich spreche, immer wieder besinnen, damit ich nicht selbst gewalttätig werde!

Gerade im Unterricht, wenn sich ein Lehrer, eine Lehrerin die Mühe macht, sich vorzubereiten, indem sie sexuelle Gewalt thematisiert, dann muss sie sich klar sein, dass wahrscheinlich die Hälfte der Klasse Betroffene sind. Ich spreche also nicht über irgendetwas, sondern ich spreche mit Menschen, die in ihrer Biographie eine Verletzung haben, die Situationen erlebt haben, in denen sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu sich selbst gehalten haben. Daher ist es derart wichtig, nicht im Blickwinkel der Juristen zu denken: »Jetzt suchen wir heraus, ob genug Anschuldigungsgründe da sind, damit ich dann unter einen Tatbestand subsumieren kann: Beweisen sie erst einmal, dass Ihnen das passiert ist, von dem sie sagen, dass es ist!«

Es ist wichtig, diesen juridischen Blickwinkel wegzulassen und einfach zu sagen: Es gibt Situationen, da sind wir hilflos und machtlos - und das kann sehr schnell passieren. Üblicherweise , das wissen wir aus der psychpotherapeutischen Forschung, entscheiden sich die Menschen blitzschnell für eine Fragmentierung. Sie spalten sich auf, ein Teil ist im Hirn, der Körper ist irgendwo; wir schauen von außen auf uns drauf oder schalten überhaupt weg. Dann können wir uns in der Therapie bemühen, diese Fragmente wieder zu einer Einheit zusammenzustellen.

Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit, nämlich die, wenn ich lerne: Ich entscheide mich, nichts zu tun. Denn da bin ich bei mir, da brauche ich nicht dissozieren, sondern ich kann in mir sagen: Ich bleibe ganz bei mir und ich beobachte dich Täter ganz genau, damit ich danach, wenn ich aus der gefährlichen Situation wieder draußen bin und mein Handeln wieder habe, genau weiß, was ich zu tun habe. Dazu ist allerdings eine Person erst fähig, wenn sie circa vierzehn, fünfzehn ist, wenn sie die Ich-Stärke hat, so reflexiv zu denken. Mit zehn ist man noch nicht so weit. (2)

Da kommen wir wieder zurück zur Suggestion: wenn wir im »Du musst und Du sollst...« vergessen, dass es auch ein »Mag ich?« gibt. Welche Werte, welche Absonderungen, welche Aufspaltungen in Angenehm/Unangenehm, Vertraut/Unvertraut können uns allen passieren! Da gehörte eine ganz spezifische Blickhinwendung, vor allem der Lehrkräfte: »Was spüre ich in meinem Körper« Wo wird´s mir mulmig? (Das ist das körpersprachliche Signal: Achtung, du hast Angst oder du kriegst eine Wut)?...

DIDAKTIK: Sie haben vorhin von Selbstrespekt gesprochen, der ja ganz wichtig ist. Sie haben dann auch gesagt, die Lehrer sollen davon ausgehen, wenn wir jetzt von Problemen reden, die Jugendlichen ja zum großen Teil selbst betroffen sind.

1.  ) Gilt das aber nicht für die Lehrer selbst auch, dass sie selbst auch Betroffene sind ?
2.  ) Selbstrespekt: Ist der bei den Lehrern auch vorhanden?
3.  ) Sexuelle Gewalt: Kann passieren, ist aber für lange Zeit, möglicherwiese bis heute überhaupt nicht bewusst, dass es eine solche war.

Das wäre folglicherweise ganz wichtig, dass sich die Lehrer dessen bewusst sind. Woher sollen sie das aber bekommen?

PERNER: Das ist wieder die Frage: Wo fange ich an? Ich bin keine Befürworterin, jeden Lehrer verplichtend in eine Psychoanalyse zu schicken, denn ich denke, das ist nicht finanzierbar. Ich sehe auch die Motivation nur zum Teil, zum Teil ist sie jedoch sehr hoch: Wenn nun ein Lehrer anderen hilft zu reflektieren, dann reflektiert er selbst auch mit. Er braucht also nur ein Modell und muss nicht selbst ein voll ausgebildeter Psychotherapeut sein. Das Modell kann ich auf verschiedene Art und Weise geben: Körper-Seele-Geist ist eine Einheit, ich kann als ein Zugang es in Rollenspielen einüben - da reflektiere ich schon mit: das kann man in Seminaren, in Fortbildungsseminaren machen. Ich würde es an und für sich für richtig halten, dass das über die pädagogischen Institute läuft. Das gehört unbedingt an die Pädagogische Akademie und an die Universität...

DIDAKTIK: ... also auch in die LehrerInnenausbildung?

PERNER: Ja. Es gehört meiner Meinung nach zumindest ein einziges Modell, damit ich wenigstens einmal erfahre, wie das ist. Wo, das würde ich offen lassen. Aber ich denke, gerade dort, wo ich eine verschulte Ausbildung habe, wie an den Pädagogischen Akademien, da gehört es auf jeden Fall. Da habe ich auch die Nähe und die Zeitkontinuität.
Also ein Modell:

Rollenspiel - das wäre der Körperzugang;
das zweite Modell wäre: Selbsterfahrung. Eine Selbsterfahrungsgruppe kann man in Seminarform machen, kann man auch auslagern. Das ist ein Modell, wo ich mir gut vorstellen kann, dass es auch in den universitären Rahmen eingebaut werden kann.
Das dritte Modell ist der kognitive Zugang, der bitte nicht unterbewertet werden soll: Es gibt entsprechend formulierte Fachliteratur, entsprechend auch die Thematisierung in Vorlesungen.
Und als vierten Zugang habe ich das Vorbildlernen: Wir brauchen Personen, die das wirklich so verkörpern, dass wir es im Zusammenwirken mit ihnen mir abschauen können.

Dann haben wir nämlich das Modell verinnerlicht. An diesem Modell fehlt es vielfach. Es gibt viel zu wenige Leute, die diese Ethik auch leben. Ich will zum Beispiel nicht bei der Arbeit fotografiert werden, ohne dass mir das jemand vorher sagt. Denn ich erschrecke durch den Blitz, verliere dann meinen Faden - und das will ich nicht. Wenn ich es vorher weiß, dann bin ich darauf eingestellt, dann schreckt es mich nicht, doch wenn ich in einem intimen Kreis fotografiert werde, weil irgendjemand ein Foto für sein privates Fotolabum haben will, dann protestiere ich. Dann reagieren manche verständnislos: »Mein Gott, ist die hantig!« Doch wenn ich freundlich sage: »Warum tun´s denn das, ich will das eigentlich nicht!«, dann wissen sie nicht, dass sie eine Grenze verletzt haben. Daher signalisiere ich das so, dass sie auch wirklich spüren, dass mir das auch wirklich etwas ausmacht. Und ich spiele nicht, sondern es macht mir wirklich etwas aus.
Ich denke, dass es hier darum geht, sich selbst als Modell zu päsentieren, aber nicht: »Seid so wie ich!« - das nenne ich klonen - sondern wirklich: »So halte ich es und ihr dürft dagegen reden und mir ein anderes Modell anbeiten! Ich bin auch offen zum Umlernen« Ich weiß, dass es überraschend viele Lehrer gibt, die sich berufsbegleitend, und meist um teures Geld diese Selbsterfahrung schon erarbeitet haben.

Wollen wir LehrerInnen die die Chancen wahrnehmen, Jugendlichen und Kindern die Problematik zu einem Zeitpunkt nahezubringen, da sie noch nicht verhärtet sind und gemeinsam daran zuarbeiten: Können wir nicht unser Zusammenleben friedlich gestalten? Ich bin Befürworterin einer LehrerInnenausbildung, die zumindest schon auf der ersten Stufe die Vielfalt des Zugangs zu dieser Problematik beleuchtet und der künftigen Lehrerin, dem Lehrer die Wahlmöglichkeit zeigt: Will ich mehr mit diesem Zugang oder mit jenem arbeiten? Ich habe die Hoffnung, dass dann früher oder später alle zur Ganzheit finden und mit allen Zugängen arbeiten.
Meine Sexualität, mein Mann- oder Frausein, bestimmt mein Bewusstsein, in Anlehnung an Watzlawick: Man kann nicht »nicht sexuell« sein. Ich bin einmal ein Mann oder eine Frau mit meiner ganz persönlichen Individualtiät, mit meinen Liebesbeziehungen. Die Frage ist nicht, wie soll ich sein oder wie ist das gesellschaftliche Wunschbild, sondern, wie bin ich und wo komme ich mit der Gesellschaft in Konflikt? Deswegen ist für mich z.B. die Frage der abweichenden Geschlechtsidentität oder des normabweichenden Sexualverhaltens relativ untergeordnet, weil es eher darum geht: wie kann ich meine Individualtiät so leben, dass ich nicht in Konflikt komme: dass ich niemanden provoziere, dass ich aber auch nicht unterdrückt werde. Ich denke, das erfordert Reflexivität - und diese Fähigkeit gehört für mich zur menschlichen Bildung, zur Persönlichkeitsbildung dazu. Da kommt dann die politische Entscheidung: Will ich reine Wissensvermittlung an der Schule oder will ich Menschenbildung?

ZUM BUCH: »MANAGEMENT MACHT IMPOTENT«


Ich habe in meinem letzten Buch »Management macht impotent« das Phänomen, alles, was anders ist, nicht als etwas anderes zu erkennen, sondern von vornherein abzuwerten und minderzubewerten, als zweiten Sündenfall bezeichnet.
Der erste Sündenfall ist für mich das Herausfallen aus der Einheit in Gott in die zweigeteilte Welt mit Gut und Böse, Mann und Frau. Dieser zweite Sündenfall passiert, wenn Kain schelen Auges auf Abel schaut, sich vergleicht, sich minderwertig fühlt und dann versucht, Abel wegzukriegen, ihn zur absoluten Minderwertigkeit, nämlich zu Staub zu machen. Das Sich-Erhöhen des einen Teils über den anderen ist für mich der zweite Sündenfall.
Diese Gefahr gibt es immer: ob das jetzt die Gesunden gegenüber den Kranken, die Inländer gegenüber den Ausländern, ob es die Eltern gegenüber den Lehrern und die Lehrer gegenüber den Schülern sind, das ergibt sogar eine Dreiheit, wo diese Machtspiele zutage treten und am deutlichsten wird es in der Geschlechterdifferenz. Vollkommen klar, wenn wir in der religiösen Metapher bleiben: In der Liebe, in der Vereinigung der Gegensätze, liegt der Sakramentscharakter. Wenn man nicht will, dass Menschen glücklich werden und erleuchtet, dann wird man statt dem Weg der Liebe den Weg des Hasses und des Krieges suchen, und genau der Prolog.

ANMERKUNGEN


1: Die Person hat halt andere Werte, als ich habe; ich pflege in meiner pädagogischen Arbeit beide Modelle nebeneinander zu stellen und die Wahl offen zu lassen: es ist die Frage, ob man ein Komplementärmodell hat oder ein Partnerschaftsmodell, wo halt die Komplementarität ausgehandelt werden muss. Das ist für mich postkonventionelle Ethik, ich verstehe aber auch die konventionelle Ethik, und da gibt es eben unterschiedliche Modelle: es ist ein Unterschied, ob jemand im dritten Reich sozialisiert wurde (mit der starken Polarität: Mann außen, Frau innen), oder ob jemand in den Siebzigerjahren sozialisiert wurde - mit einem Gleichheitsmodell. Es sind Modelle, die wir eben geisteswissenschaftlich oder juristisch formulieren. Im Endeffekt sind es immer politische Entscheidungen. Aber das möchte ich wirklich offen lassen, denn es ist nicht meine Aufgabe zu moralisieren. Meine Aufgabe ist es, persönliche Ethik anzusprechen.
2: Es hat ja seinen Sinn, dass wir die Straf- und die Sexualmündigkeit eben in diesem Alter haben. Denn da habe ich grundsätzlich die Reflexionsfähigkeit zu überlegen: Will ich das und wie verhalte ich mich?

 
ZUR PERSON


Prof. Dr. Rotraud Perner ist
Expertin für Persönlichkeitsbildung
Psychotherapeutin /Psychoanalytikerin
Konflikt- und Gewalt-Forscherin
Lektorin am Institut für die schulpraktische Ausbildung (Universität Wien) zum Schwerpunkt: Didaktik der Gewaltprävention

Mag. Gerhard Wagner ist seit 1993 Chefredakteur und Herausgeber des Bildungsmagazins DIDAKTIK sowie von DIDAKTIK-Online und verantwortlich für die inhaltliche Konzeption von didaktik-on.net.

Er hat an zahlreichen bildungswissenschaftlichen, didaktischen und sozialwissenschaftlichen Projekten, unter anderem als Projektleiter, mitgearbeitet.

Gerhard Wagner war in verschiedenen Kommissionen der Universität Wien Mitglied und später zunächst als Tutor, dann von 2004 bis 2009 als Studienassistent am Institut für die schulpraktische Ausbildung tätig (seit 2005 Teil des Instituts für Bildungswissenschaft an der Universität Wien). Bis 2011 ist er für die Universität Wien Projektmitarbeiter im von der EU geförderten Projekt »Hook up!«, an dem zehn europäische Universitäten eine Sprachlernplattform für Austauschstudierende erstellen.

Seit 2011 unterrichtet er, zunächst an einer AHS in Niederösterreich, jetzt in Wien, Deutsch, Deutsch als Zweitsprache sowie Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung.

Des weiteren ist Gerhard Wagner Mitarbeiter der integrativen Redaktion von Freak-Radio und Chefredakteur von Freak-Online. In beiden Redaktionen erarbeiten Menschen mit und ohne Behinderung Informationen über behinderte Menschen.
-> http://freak-online.at
-> https://www.facebook.com/gerhard.wagner1/about?section=bio

Mag. Brigitte BÜNKER ist stv. Chefredakteurin und Fachbereichsredakteurin für den Schulbereich und die Lehrer/innenbildung in Wien.
Sie ist AHS-Lehrerin für Deutsch und Geschichte und war langjährige Mitarbeiterin an der Abteilung für LehrerInnenbildung und Professionalisierungsforschung des Instituts für Bildungswissenschaft (Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien); Lehrbeauftragte der Universität Wien für Fachdidaktik Geschichte


altes Logo der Zeitschrift Didaktik © Didaktik, (http://didaktik-on.net) 1996
(http://didaktik-on.net/cgi-bin/didaktik.cgi?id=0000017)

Artikel: Rotraud Perner im DIDAKTIK-Interview mit Gerhard Wagner und Brigitte Bünker (1996): Über Sexualität, Gewalt und eine mögliche Thematisierung in der Schule.Handlungskompetenz ohne Polarisierung!
aufgerufen am: 28. 11. 2023