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Artikel aus 2001

Lernen unter Selbstkontrolle
Was soll die Schule nicht noch alles leisten?

ERNST BAUER


Wenn unsere Schülerinnen und Schüler mit erfolgreicher Reifeprüfung die höheren Schulen verlassen, sollten sie folgende Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt haben:



Selbstkompetenz (Sie wissen um ihre Stärken und Schwächen Bescheid),
Sachkompetenz (Sie verfügen über ein breit gestreutes Grundwissen aus vielen Fächern)
Sozialkompetenz (Sie können in Gruppen arbeiten, können Konflikte bearbeiten, können die Meinung eines anderen akzeptieren usw.) und
die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen

Für ein erfolgreiches Berufsleben ist die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen Grundvoraussetzung, da ständig neue technische Errungenschaften auf uns zukommen und in unsere Arbeit integriert werden müssen und da das gesicherte Wissen stetig zunimmt. Der Beitrag der Schule bei der Vermittlung von Sachkompetenz ist sicherlich eine ihrer großen Stärken. Ob eine ausreichende Anleitung in Lerntechnik (Lernen lernen) und deren konsequente Anwendung im Unterricht durchgehend gegeben ist, bezweifle ich.

Ebenso wichtig ist Sozialkompetenz, da der intellektuelle Einzelkämpfer in der modernen Berufswelt wenig gefragt ist. Hier haben viele Schulen das Projekt Soziales Lernen in den Schulalltag integriert und damit den richtigen Schritt zum Erwerb von Sozialkompetenz getan. Auch Mediation durch Peers, die bei Problemen helfen, ist an vielen Schulen schon eingeführt.

Die Selbstkompetenz eines Menschen stellt die Basis für alle anderen Kompetenzen dar. Sie wird nur teilweise an unseren Schulen gefördert und entfaltet, mitunter sogar durch Sarkasmus, Zynismus, Blamieren usw. grob untergraben. Hier besteht großer Nachholbedarf, nicht durch die Schulen, sondern durch manche Kolleginnen und Kollegen.

DIE TRAININGSWELTMEISTER


In Schule und Berufsleben, besonders aber im Hochleistungssport erfordern Selektionsprozesse Spitzenleistungen zu bestimmten Zeitpunkten (Schularbeit, Test, Prüfung und Aufnahmegespräch, Einstellungstest, Probezeit, Arbeit unter Streß, Wettbewerbe usw.). Im Sport ist schon lange bekannt, dass begabte Menschen zwar in relativ unbelastenden Situationen überaus erfolgreich sein können, in Wettbewerbssituationen jedoch weit unter ihrem Niveau abschneiden. Sie werden als Trainingsweltmeister bezeichnet und scheinen einem schicksalhaften Verhalten zu unterliegen, mit dem man sich abfinden muss. Wieviele Trainingsweltmeister gibt es im schulischen Bereich?

Der Zusammenhang zwischen Leistung und Aktivierung lässt sich in einem umgekehrt u-förmigen Graph (Lambda-Beziehung von Yerkes-Dodson) darstellen. Beim Anstieg der Aktivierung (Ich muss es schaffen. Ich darf mir keine Blöße geben. Alle sehen mir jetzt zu ...) steigt die Leistung stark an, bei zunehmender Aktivierung wächst aber auch das Hemmpotential. Steigt die Aktivierung über den optimalen Wert weiter an, sinkt die Leistung entsprechend stark. Daher ist nur bei einem mittleren Aktivierungsniveau eine optimale Leistung gegeben. Jeder von uns hat schon erlebt, dass eine gut beherrschte Tätigkeit oder Fertigkeit nicht zu jedem Zeitpunkt zu unserer vollen Zufriedenheit ausgeführt werden kann. In einem Experiment von Guttmann an der Universität Wien wurde ein Vergleich zwischen im Labor gemessenen Werten (keine belastende Situation) und in der Realsituation (belastende Situation) bei einem Kletterkurs verglichen. Dabei zeigte sich, dass ein und dieselbe Belastungssituation bei manchen Personen einen dramatischen Leistungsabfall verursacht, bei anderen hingegen zu einer Leistungssteigerung führt. Das gilt selbstverständlich auch für den intellektuellen Bereich.

Wir haben kein Sensorium, um unsere Aktivierung direkt zu messen, doch in manchen Situationen spüren wir, wie unser Herz rascher schlägt, wie die Schweißproduktion angeregt wird, wie wir blass oder rot werden , wie die Hände ein wenig zu zittern beginnen usw. und schliessen daraus auf eine erhöhte Aktivierung.

Ich war so nervös, dass ich den Text kaum lesen, geschweige denn verstehen konnte. Ich habe gut gelernt, doch bei der Prüfung war alles wie weggeblasen. Ähnliche Aussagen liessen sich beliebig fortsetzen, wobei vielleicht manches Mal ein wenig übertrieben wird, damit die elterlichen Zornausbrüche oder Sanktionen über die negative Prüfung nicht so kraß ausfallen.

MUSKEL ODER CHEMIE?


Eltern wollen, im guten Glauben an die Wirkung von Medikamenten, mit einem Beruhigungsmittel die Nervosität ihrer Kinder bekämpfen. Sie reduzieren damit zwar die Aktivierung, doch auch die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Außerdem hält die Wirkung weit über den gewünschten Zeitraum hinaus an. Trainiert jemand ein geeignetes Ritual in Form von kurzfristiger, starker muskulärer Anspannung und darauffolgende Entspannung, kann er die gleiche Wirkung wie durch ein Medikament erzielen, doch jederzeit aus dem entspannten in den leistungsbereiten oder umgekehrt aus dem leistungsbereiten in den entspannten Zustand wechseln. Auf diese Weise ist die Tatsache, ein Trainingsweltmeister zu sein, kein schicksalshafter Zustand, sondern er kann durch Selbstkontrolle gemeistert werden. In einer groß angelegten Studie mit Schülerinnen und Schüler aus Österreich konnte Monghy zeigen, dass 50% der Trainingsweltmeister nach einem entsprechenden Anspannungs- und Entspannungstraining, das auf mehrere Übungstage verteilt war, sich zu belastbaren Kindern entwickelt hatten. Der Rest hätte wahrscheinlich ein längerdauerndes Training gebraucht.

Ebenso wie vegetative Größen (Pulsfrequenz, Atemfrequenz, Körpertemperatur und Blutdruck) während des Tages Schwankungen unterliegen, ist auch die Aktivität des Gehirns und damit die Leistungsfähigkeit keine konstante Größe. Ein wichtiger Parameter, der von der Versuchsperson und von der Reizkonstellation abhängt, besteht in der Änderung des Gleichspannungspotentials (DC-Potential) zwischen der Oberfläche des Kortex und einem neutralen Punkt, was den Vergleich des Gehirns mit einer Batterie zuläßt. Einem Aktivierungsanstieg entspricht eine Vergrößerung der Negativität des Potentials, eine Desaktivierung entpsricht einer Vergrößerung der Positivität des Potentials. Erst in den 80-er Jahren gelang die Registrierung des DC-Potentials mit einer Genauigkeit von einem millionstel (!) Volt von der unversehrten Kopfhaut durch H. Bauer an der Universität Wien. Eine computergesteuerte Darbietung verschiedenster Lernaufgaben während einer lernbereiten oder nichtlernbereiten Phase des Gehirns ergab einen Leistungsunterschied zwischen den beiden Situationen von immerhin 25%. Dieses Ergebnis wies zwingend in die Richtung einer Anwendung im Lehr- und Lernbereich.

Biofeedbackgeräte können Spannungszustände in Form der Variation der Frequenz eines Tones oder der Farbe eines Bildmusters der Person zugänglich machen. Es genügt hier die Anweisung: Machen Sie den Ton möglichst tief! Die Anweisung - Entspannen Sie sich jetzt.- führt besonders bei leistungsorientierten Menschen zum Gegenteil, da sie glauben, sich noch mehr anstrengen zu müssen, was aber mit Entspannung inkompatibel ist. Die weiteren, mit höchstem technischen Aufwand an der Universität Wien druchgeführten Untersuchungen, haben ergeben, dass eine durch Guttmann vereinfachte Form der Entspannung von Jacobson die beste Methode zur Aktivierungssteuerung darstellt. Die Methode ist in kurzer Zeit erlernbar und auch von Kolleginnen und Kollegen leicht weiterzugeben.

Die Wirkung der Musik zur Unterstützung der Entspannung ist ebenso bekannt. Das wohl berühmteste Beispiel sind die Goldberg-Variationen von Bach für den Grafen Keyserlingk. Alle Möglichkeiten (Visualisierung, Spannungsschaukel und Musik) bieten sich - einzeln oder kombiniert - zum Zwecke der Aktivitätssteuerung an.

EIN NEUER ANSATZ


Guttmann hat in Zusammenarbeit mit Vanecek das Wiener Modell entwickelt, bei dem alle lernstörenden Faktoren ausgeschlossen wurden. Es muss als bedeutungsvoll angesehen werden, was

dem Lernprozess vorangeht, d.h. die Generierung eines lernbereiten Zustandes - teachable moment - (Ergebnisse der Neuropsychologie durch Guttmann),
den Lernprozess fördert, (Ergebnisse der Kognitions- und Kommunikationsforschung durch Ballstaedt et al., Groeben, Langer-Schulz v. Thun-Tausch) und
dem Lernprozess folgt, d.h. die konsequente Vermeidung von Lernhemmungen (Ergebnisse der Gedächtnisforschung durch Ebbinghaus, Müller u. Pilzecker).

Die Dramaturgie des Lehr- und Lernprozesses liegt bei der Lehrerin/beim Lehrer, die/der die verschiedenen Phasen des Unterrichts wie Aktivierung, Information, Wiederholung, Sicherung, Visualisierung, Sozialform usw. in den Ablauf einer Unterrichtsstunde in pädagogisch und psychologisch richtiger Weise plant und durchführt.

Im Schuljahr 1978/79 startete Guttmann im Rahmen des Ludwig Bolzmann-Instituts für Lernforschung den ersten Versuch, die gewonnen Erkenntnisse in die Schulpraxis umzusetzen. An der Pädagogischen Akademie des Bundes in der Ettenreichgasse wurden die Übungsklassen nach dem Wiener Modell unterrichtet. Die Steuerung des Aktivierungsniveaus zur Unterstützung der Lernphase erfolgte nach dem vereinfachtem Entspannungstraining von Guttmann. Der Erfolg bestätigte in eindrucksvoller Weise die im Labor gemessenen Werte: Lernzeitersparnis von 25%.

Das Modell wurde auch auf den Hauptschulbereich in den Fächern Deutsch, Englisch, Geographie und Mathematik übertragen und 1980/81 auf den AHS-Bereich am Oberstufenrealgymnasium für Studierende der Musik ausgedehnt. Ziel an dieser Schule war, die Reduktion der Doppelbelastung durch die zusätzliche musikalische Ausbildung. Begonnen wurde mit den Problemfächern Mathematik und Latein und später kamen die Fächer Religion, Englisch, Geschichte sowie Psychologie und Philosophie dazu. Der Vergleich von Modellklassen und Vergleichsklassen bestätigte auch hier die Wirksamkeit im kognitiven Bereich.

MEIN CHAIRMAN BIN ICH!


Die weitere Entwicklung dieses Modells bestand darin, dass die/der Lernende die Steuerung seines Gehirns mittels Entspannungs- oder Aktivierungstechniken selbst übernimmt. Lernen unter Selbstkontrolle - kurz LuS® - wurde es genannt und von Guttmann urheberrechtlich geschützt. Der Name bezieht sich daher nicht auf die Selbstkontrolle von Arbeitsergebnissen oder von Arbeitsmaterialien.

Lernen unter Selbstkontrolle fördert durch die Entspannungsphasen mit geschlossenen Augen, die gegenüber den Aktivierungsphasen zeitlich überwiegen, einen intensiveren Zugang zum eigenen Erleben, wodurch die interpersonale Wahrnehmung erleichtert wir. Damit wird eine Verbesserung der sozialen Beziehungen ermöglicht und gleichzeitig Aggressionen langfristig abgebaut. Ein effektiveres Lernen und Arbeiten ist die Folge der skizzierten Veränderungen.

Das Modell Lernen unter Selbstkontrolle zählt zu den Methoden, die keinerlei zusätzlicher Mittel zur Ausführung bedürfen, den Grundsatz der Chancengleichheit nicht verletzen, genaue Handlungsanweisungen für die praktische Umsetzung im Schulalltag geben, keine persönlichkeitsverändernden Maßnahmen der/des Lehrerin/Lehrers und der Schülerinnen/Schüler verlangen, keinen zusätzlichen technischen Aufwand erfordern und auf allen Schulstufen anwendbar sind. Jede der gegenwärtigen pädagogischen Methoden wie Gruppenarbeit, projektorientierter Unterricht, Projektarbeit, Offenes Lernen, Soziales Lernen usw. werden in ihrer Effektivität erhöht. Auch in der Reformpädagogik, im Förderbereich und im Interkulturellen Lernen hat sich Lernen unter Selbstkontrolle bewährt.

Lernen unter Selbstkontrolle ist die erste Stufe eines selbstgesteuerten Aktivierungsprogramms. Nicht nur optimal Lernen, sondern auch den Lernerfolg in belastenden Situationen zu erbringen, bedeutet die zweite Stufe von LuS®, nämlich Leistung unter Selbstkontrolle. Vor einer wichtigen Leistung abschalten können, um sich voll auf die kommende Aufgabe zu konzentrieren. Bei Spitzensportlern eine selbstverständliche Haltung, die auch im Fernsehen bei Schisportlern zu beobachten ist: Sie haben die Augen geschlossen, hängen in den Schistöcken und fahren den Kurs in der Vorstellung durch, wie an den Handbewegungen abzulesen ist.

Die im Unterricht vermittelte Entspannungstechnik hat aber, wenn sie konsequent angewandt wird, zusätzlich eine psychohygienische Wirkung, die nicht zu unterschätzen ist. Wie uns die physische Hygiene vor Infektionen schützt, kann uns eine Psychohygiene vor den Belastungen durch die Umwelt wirkungsvoll schützen. Damit meine ich Streß, Schlaflosigkeit, Angst, Auseinandersetzungen mit anderen Menschen, Überforderung usw. Viele Menschen brauchen Kaffee, Nikotin, Alkohol, Medikamente oder Drogen, um ihre Probleme vordergründig zu bewältigen und werden rasch abhängig, was bei dieser Methode mit Sicherheit nicht eintreten kann. Die dritte Stufe von LuS® besteht also darin, auch im Alltagsleben mit der Selbstkontrolltechnik nach anstrengenden Leistungen Ruhepausen einzuschalten, sich Perioden der Besinnung zu schaffen, um sich nicht von kleinlichen Alltagsproblemen überwältigen zu lassen und kann als Leben unter Selbstkontrolle bezeichnet werden.

Es wäre also lohnenswert, das Modell LuS® in kleinen Schritten in den Unterricht einzuführen. Damit wird eine Fertigkeit bei den Schülerinnen und Schülern entwickelt, die sie mit der Reifeprüfung wirklich reif für ihr Leben macht.

LITERATUR


Ballstaedt, S. et al.: Texte Verstehen - Texte gestalten. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1981.

Bauer, E.: Das Wiener Unterrichtsmodell. In Psychologie und Unterricht, 34, S. 137-144. Ernst Reinhard, München-Basel 1987.

Ebbinghaus, H.: Über das Gedächtnis. 1885.

Groeben, N.: Leserpsychologie: Textverständnis - Textverständlichkeit. Schendorf, Münster 1982.

Guttmann, G.: Lernen unter Selbstkontrolle bei Jugendlichen. In: Nissen, G.: (Hrsg.) Intelligenz, Lernen und Lernstörungen, S 77 -89. Hans Huber, Bern-Stuttgart-Wien 1977.

Guttmann, G.: Lehrbuch der Neuropsychologie. Hans Huber, Bern 1988.

Guttmann, G.: Lernen unter Selbstkontrolle. Universitätsverlag, Wien 1997.

Jacobson, E.: Immer mit der Ruhe. Arthur Niggli und Willy Verkauf, Teufen/St. Gallen-Bregenz-Wien 1955.

Langer, I., Schulz von Thun, F. und Tausch, R.: Sich verständlich ausdrücken. Ernst Reinhard, München 1981.

Monghi, R.: Trainingsweltmeister im Pflichtschulalter. Phil. Diss., Wien 1990.

Müller, G. E. und Pilzecker, A.: Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis. Z. Psychol. Suppl. 1, 1900.

Vanecek, E.: Angewandte Lernpsychologie im Unterrichtsgeschehen. Habil. Phil., Wien 1982.

 
ZUR PERSON


Mag. Ernst Bauer war Lektor am Institut für die schulpraktische Ausbildung der Universität Wien sowie am Pädagogischen Institut mit den Schwerpunkten »Lernen unter Selbstkontrolle« sowie »Lernen lernen«; Supervisor für »S C H I L F«-Projekte


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